Winterlicht
Finnikin.
Evanjalin stand auf und sah hochnäsig auf ihn herab. „Ich schlage vor, du fragst ihn morgen, ob sich seine Meinung inzwischen geändert hat.“
Am nächsten Tag setzten sie ihren Weg zu den Felsendörfern fort. Zweimal noch versorgte Evanjalin Finnikins Wunde, und trotz ihrer Unnahbarkeit ertappte er sich dabei, wie er ihr Geschichten aus seinem Heimatdorf auf den Felsen erzählte. Sie schwieg, blieb aber an seiner Seite, und einige Male sah er sie lächeln. Die Lumaterer der Felsregionen waren ein ganz besonderes Völkchen. Da sie alle nahe beieinander wohnten, war der Umgang meist sehr offen, obwohl man in seinen eigenen vier Wänden gerne einmal über den Nachbarn herzog. Als Finnikin von seiner Großtante Celestina erzählte, die wegen eines Pastetenrezepts eine Fehde mit dem ortsansässigen Schweinezüchter angefangen hatte, musste Evanjalin laut lachen. Sie selbst jedoch gab keinerlei Erinnerungen zum Besten.
„Hast du deine Kindheit in Lumatere vergessen?“, fragte Finnikin leise im selben Augenblick, als ihr Führer signalisierte, dass sie nun in der Nähe der Bergfestung seien.
„Nein“, antwortete Evanjalin. „Ich erinnere mich an jeden einzelnen Moment, und das, solange ich lebe.“
Am frühen Abend erreichten sie das Dorf. Die Festung war hoch oben in die Felswand gebaut, sodass sie vor Angreifern aus dem Norden geschützt war. Von hier aus führten Wege zu den anderen Dörfern, die sich etwa zwanzig Meilen entlang des Flusses Skuldenore erstreckten.
Vom Fuß des Felsmassivs führte eine Steintreppe zwischen zwei Dorfhütten zur Festung. Die Gefährten stiegen hinauf, bis sie eine Zugbrücke erreichten, über die man zu einem Eisentor gelangte. Als sie im Gänsemarsch die Brücke überquerten, fielen Finnikin zwei Männer in einem Ausguck auf, die mit Pfeil und Bogen auf die Ankömmlinge zielten. Wären sie Feinde gewesen, hätte man sie erschossen, noch ehe sie den ersten Pfeil aus dem Köcher gezogen hätten.
Ihr Führer rief etwas und das Eisentor wurde geöffnet. Sie gingen hindurch und wurden weitere Steinstufen hinaufgeführt. Große, dicke Fliegen surrten um ihre Köpfe.
Als sie vor den König von Yutlind Süd und seinen Sohn Jehr traten, war Finnikin überrascht, wie unscheinbar die beiden aussahen. An anderen Höfen war eitler Pomp an der Tagesordnung.
Der Junge lächelte ihn an, seine Zähne waren von beeindruckendem Weiß. Finnikin erwiderte das Lächeln, er fühlte sich dem Jungen auf seltsame Weise seelenverwandt.
Jehr machte ihnen ein Zeichen, ihm zu folgen, und Finnikin reichte Evanjalin seine Hand, um ihr beim Aufstieg zu helfen.
Vom Ausguck aus konnte Finnikin eine Felshöhle auf der gegenüberliegenden Seite des Tals sehen. Jehr begann zu sprechen.
„In dieser Höhle ist eine Wache postiert, die mit einem Horn die anderen Wachen flussabwärts bei Gefahr warnen kann“, übersetzte Evanjalin.
Jehr deutete auf Finnikins Bogen und dann auf seinen eigenen und begleitete diese Geste mit einem merkwürdigen Grunzen. Finnikin sah Evanjalin fragend an.
„Er will sich mit dir messen.“
Jehr sagte etwas zu ihr und sie verdrehte die Augen. „Wer zuerst zehn Pfeile ins Ziel bringt“, erklärte sie. „Denk an deinen Zustand, Finnikin.“
Finnikin nickte Jehr zu, und trotz seiner Verletzung verbrachten sie den Rest des Abends im Wettstreit. Wie sich herausstellte, waren sie einander an Geschwindigkeit und Können ebenbürtig. Das Kräftemessen endete erst, als ihre Väter kamen und der König laut etwas ausrief und ihre Köpfe aneinanderschlug, weil sie unnötig Munition verschwendet hatten.
Finnikin und Jehr setzten den Wettstreit fort, indem sie die Narben auf ihren Körpern verglichen.
„Dreh dich um“, sagte Finnikin zu Evanjalin und zeigte Jehr und Froi die Narbe an seinem Schenkel von der Wette mit Balthasar und Lucian. Daraufhin weigerte sich Evanjalin den restlichen Abend standhaft zu übersetzen.
Ein Gerücht über Rebellen, die sich flussabwärts aufhielten, zwang sie, einige Nächte in dem Felsendorf auszuharren. Tagsüber streifte Finnikins Vater ungeduldig durchs Dorf, lief immer wieder auf und ab wie ein Tiger im Käfig. Finnikin hingegen vertrieb sich die Zeit mit Jehr, Froi und Evanjalin auf einem flachen Felsvorsprung über dem Fluss. Jehr brachte Froi bei, wie man einen Pfeil abschießt, und sie wählten eine Markierung aus, um zu sehen, wer als Erster einen Treffer landen würde.
„Ich werde eines Tages König sein“, übersetzte
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