Winterliebe: eine Anthologie aus fünf sinnlich-romantischen, humorvollen und homoerotischen Love Storys (German Edition)
ich noch meinen Glauben an den Weihnachtsmann. Und das wäre doch tragisch ... in meinem Alter.“
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Zähneklappernd eilte Judas die Straße hinunter. Es war vollbracht. Er hatte das Geschenk, und es war halbwegs ansehnlich verpackt. Er hatte die endlose Fahrt hinaus in den Ort, in dem seine Mutter sich vor den Toren der Stadt in ländlichem Ambiente breitgemacht hatte, hinter sich gebracht – und er war hoffentlich endgültig für dieses Jahr der Weihnachtsbedröhnung entronnen.
Hier draußen war es still – und dunkel. So sehr er die Stadt liebte, nach diesem Tag war er doch froh, zu seinen Wurzeln zurückkehren zu können. Die Bauernhöfe, in denen schon lange kein einziger Bauer mehr residierte, waren von ihren mondänen neuen Bewohnern auf Zack gebracht worden, die Lichterkettendekoration hielt sich in verschmerzbaren Grenzen. Das letzte Stück war er mit dem jede Milchkanne hier draußen abklappernden Bus gefahren, jetzt hieß es laufen.
In der Stadt war es wärmer, hier hingegen kam der Niederschlag in Form von dicken Schneeflocken herunter, die zwar nicht recht liegen bleiben wollten – aber immerhin.
Weiße Weihnacht. Dass eines Tages Horden von Germanen seinen Geburtstag vorzugsweise mit Schneefall assoziieren würden, hätte sich Jesus wahrscheinlich nie träumen lassen. Und hoffentlich auch so manch Anderes, das die Menschen aus seinen Taten und Ideen abgeleitet hatten.
Für Judas war Jesus eine historische Gestalt, kein Heiland – aber auch nicht so eine Hassfigur wie für seine Mutter. Das hatte er dem Weihnachtsmann verschwiegen. War er wohl doch nicht so brav. Obwohl ... das, was er dem Typen gesagt hatte, stimmte schon. Er mochte ein bissiges Mundwerk haben, wenn ihm der Kragen platzte, aber dennoch hielt er sich nicht für einen schlechten Menschen, auch nicht nach gängigen Vorstellungen. Aber das glaubte wohl fast jeder von sich.
Nein, eigentlich war er wohl eher langweilig.
Hinter seinem manchmal brüsken Auftreten war er eher kontaktscheu, lag vielleicht auch an der Scheidungsgeschichte, oder er war eben so und lebte sein Leben in geordneten Bahnen. Er konnte sich für seine Studienfächer begeistern, träumte davon, eines Tages viel zu reisen – als Lehrer verdiente man ja ganz gut – und andere Menschen an seinem Wissen teilhaben lassen zu können. Und ansonsten ... wusste er auch nicht so recht.
Er war schwul, aber er hatte berechtigte Zweifel, dass er großartig anders wäre, wenn er von einer Frau statt eines Mannes geträumt hätte. Beides war im Moment auch schlichtweg nicht in Reichweite. Er war eben er, der Rest würde sich zeigen.
Judas öffnete die etwas rostige Gartenpforte und passierte das Skulptureninferno, das seine Mutter in ihrem Garten entfesselt hatte. In ihrer Freizeit bildhauerte sie gerne, sodass es hier ein wenig aussah wie auf den Osterinseln – nur deutlich schräger. Ihre abstrakten Formkonvolute trugen pittoreske Namen wie „Traum vom Tod des letzten Patriarchen“, „Requiem auf meine Meno-Pause“ und „Memento für meinen lebenden Fötus“. Er fühlte sich nur sehr mäßig geschmeichelt, aber so war sie eben.
Mit fröstelnden Fingern klingelte er. Von drinnen hörte er Stimmen. Verdutzt runzelte er die Brauen. Sie hatten Besuch? Oder hatte seine Mutter wen entführt, um die Regierung zu Reformen in ihrem Sinne zu erpressen? Nun gut, so verrückt war sie dann doch – noch? – nicht.
Die Tür schwang auf, und dann stand sie vor ihm, elegant in ein dunkellila Kleid gewandet, lächelnd. Das Kind in ihm brachte ihn dazu, sofort zurückzulächeln.
„Hallo, Mama!“ begrüßte er sie und ließ sich hineinziehen und mit zwei Küssen links und rechts auf die Wangen begrüßen, eine Unsitte, die seine Mutter in ihrer Au-Pair-Zeit in Frankreich aufgeschnappt hatte.
„Hallo, mein Schatz!“ lächelte sie zurück. „Ganz durchgefroren bist du, du Armer!“
„Nicht so schlimm“, winkte er ab. „Hauptsache, ich bin endlich hier. Fröhliche ... äh ... Anti-Weihnachten?“
Sie lachte und nickte. Sie mochte zwar ein wenig bekloppt sein, aber er liebte sie, sie war immer für ihn da gewesen. Und zumindest rein äußerlich – hoffte er – ähnelten sie sich sehr. So manchem Mann war zum Verhängnis geworden, dass die süße Frau Steinhöffer Haare auf den Zähnen hatte. Und keinen ihrer Freunde hatte sie je ihm vorgezogen, das konnte man von deutlich „normaleren“ Müttern nicht behaupten. Seine Beichte, dass er homosexuell sei,
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