Wintermädchen
Cassie gestorben ist«, sagt sie.
»Du machst Witze.«
»Mache ich mit dir Witze übers Essen?«
Ich habe solchen Hunger Ich muss stark bleiben – mich verbiegen, aber nicht brechen. »Einen Muffin.«
»Zwei Muffins. Du brauchst die Kohlenhydrate.«
»Einen und die Eier.«
Wieder holt sie tief Luft. »Abgemacht.«
Es dauert eine Stunde.
Rühreier = 2 5 Bissen.
Ein Muffin = 1 6 Bissen.
036.00
Mein rosiger Mäusemagen mag es, klein und leer zu sein. Er hasst mich dafür, dass ich all dieses Essen in ihn hineinschaufele. Ich lege mich aufs Sofa, ziehe die elektrische Heizdecke über mich und versuche, mich nicht zu rühren.
Mom sitzt auf dem Sofa gegenüber mit einer Tagesdecke über den Beinen – die, die ich ihr letztes Weihnachten gestrickt habe, voller heruntergefallener Maschen und Fehler im Muster. »Bist du sicher, dass du dir das anhören willst?«
»Schlimmer, als ich es mir vorstelle, kann es nicht sein.«
»Es ist scheußlich.«
»War sie auf Drogen?«
»Nein, nichts Verbotenes, aber sie hatte zwei Antidepressiva eingenommen, außerdem ein Präparat gegen Stimmungsschwankungen und etwas gegen Magengeschwüre. Und Wodka. Sehr viel Wodka.«
»Alkoholvergiftung?«
»Nein.« Mom zupft das Kissen hinter ihrem Rücken zurecht, aber mehr sagt sie nicht.
»Du hast es versprochen«, beschwere ich mich. »Ich habe getan, was du wolltest. Du musst es mir erzählen. Alles.«
»Alles?« Sie holt Luft und wechselt in den Modus »Behandelnder Arzt«. »Cassie hatte Leberschäden, ihre Speicheldrüsen waren zerstört, und sie hatte einen aufgeblähten Magen.« Mom hebt eine locker geballte Faust. »Ein gesunder Magen ist so groß und kann sich dehnen, um etwa anderthalb Liter zu fassen. Cassies Magen hatte das doppelte Fassungsvermögen. Außerdem waren die Magenwände dünner geworden und zeigten erste Anzeichen von Nekrose.«
Das letzte Mal habe ich Cassie kurz vor den Thanksgiving-Ferien gesehen. Ich war auf dem Weg in die Bücherei. Sie hängte gerade Plakate für das Musical auf. Äußerlich wirkte sie sauber und farbenfroh: neue Jeans, schöner Pullover, tolle Ohrringe. Ihre Wangen waren voll wie die eines Backenhörnchens, das Haar war strohblond. Sie war nicht nekrotisch. Sie kaute Kaugummi. Ihre Augen wirkten müde, aber wir sind in der letzten Klasse der Highschool, da haben alle tote Augen.
Ich lief an ihr vorbei und sagte flüsternd H,3allo, aber sie hörte es nicht.
Vollgestopft und ausgekotzt, voller Eimer, leerer Eime r – so zog es Cassie immer und immer wieder Richtung Brunnen.
»Am Thanksgiving-Donnerstag hatte Cassandra einen furchtbaren Streit mit ihren Eltern«, sagt Mom. »Sie stand mitten im Abendessen vom Tisch auf und wollte weg, um sich zu übergeben. Cindy meinte, sogar Jerry hat gemerkt, dass Cassandra wieder in ihre alten Gewohnheiten zurückfiel. Sie sagten ihr, dass sie stationär behandelt werden müsse. Cassandra weigerte sich. Sie war neunzehn, sie konnten sie zu nichts zwingen. Jerry verlor die Beherrschung und sagte, er würde für kein College bezahlen, ehe sie nicht wieder gesund sei.
Cassie machte sich aus dem Staub. Sie rief ihre Mutter an und sagte, sie würde Samstag wieder nach Hause kommen und dass sie bei einer Freundin sei. In Wirklichkeit war sie in dem Motel. Sie trank, stopfte Essen in sich rein und erbrach sich zwei Tage lang.«
»Also war es ein Herzinfarkt? Weil ihr Elektrolythaushalt komplett durcheinander war?«
Mom zieht sich die Tagesdecke bis über den Oberkörper. »Nein, Schatz. Sie hatte eine Speiseröhrenruptur.«
»Ruptur?«
»Einen Riss. Das Boerhaave-Syndrom. Es kommt meist bei Alkoholikern vor, die sich regelmäßig übergeben, wenn sie zu viel getrunken haben. Wenn man zu heftig bricht, kann die Speiseröhre reißen.« Mom senkt den Kopf und betrachtet ihre Hände. »Sie erbrach sich in die Moteltoilette, als es passierte. Und sie war, wie gesagt, sehr, sehr betrunken. Sie erlitt einen Schock und starb im Badezimmer.«
Ich zähle bis zehn, dann weiter bis hundert.
Mom wartet. Guckt. Atmet ein. Atmet aus. »Hast du noch irgendwelche Fragen?«, sagt sie schließlich.
»Wird es in den Zeitungen stehen?«
Mom schüttelt den Kopf. »Das bezweifele ich. Da keine Drogen im Spiel waren, werden die nichts weiter sagen, als dass ihr Tod das Ergebnis eines bereits bestehenden Krankheitsbildes war.«
Draußen vorm Haus kehren die Ersten wieder zu ihren Autos zurück, steigen ein, schließen die Wagentüren und fahren weg, so schnell
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