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Wintermädchen

Wintermädchen

Titel: Wintermädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurie Halse Anderson
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Mund, ein feucht-roter, scharfer Geschmack, weder nach Beere noch nach Apfel, sondern herber, so ähnlich wie Wein. Ich könnte eine Handvoll von diesen Streuseln essen oder sechs Hände voll oder ich könnte einen ganzen Eimer davon in mich hineinschütten.
    Nein, könnte ich nicht. Ich esse nur sechs Streusel. 1. 2. 3. 4. 5. 6. Sie fühlen sich warm an, als sie meine Kehle hinuntergleiten, nicht bedrohlich.
    Ich höre, wie sich eine Tür öffnet, aber sehe nichts. Die Fäden der Lia-Marionette sind gekappt, und nun fühle ich diese Hände nicht mehr und kann sie auch nicht davon abhalten, das Krepppapier vom Törtchen abzuziehen und es ganz in mich hineinzustopfen. Dieser Mund kaut und schluckt hastig, denn dann folgt noch eins und noch eins, bis alle rot bestreuselten Törtchen weg sind. Jedes. Einzelne.
    Als Nächstes greifen diese Hände nach einem Brownie und dann nach einem Stück Fudge und nach einem knallrosaarmigen Emma-Lebkuchenmädchen. Ich löse mich in einem Zuckerrausch auf, bis die Türen der Aula auffliegen und die Halle sich mit Applaus, begeisterten Pfiffen und warmen Körpern füllt.
    Dann renne ich zur Toilette.
    Es ist egal, wie tief ich mir den Finger in den Hals stecke, die Jauchegrube will sich einfach nicht leeren. Also spritze ich mir Seife in den Mund und gurgle, bis mir die Seifenblasen die Wangen runterlaufen.
    045.00
    Mitten in der Nacht stößt mir irgendjemand ein Schwert in die Eingeweide. Ich wache auf und schreie nach meinen Eltern, aber wer an mein Bett hastet, ist Jennifer, weil mein Vater wieder auf Reisen ist und meine Mutter nicht hier wohnt. Sie hilft mir, mich ins Bad zu schleppen. Ich weiß nicht, ob ich mich aufs Klo setzen soll oder besser meinen Kopf über die Schüssel halte.
    Ich ziehe meinen Schlüpfer herunter und setze mich hin. Jennifer macht einen Waschlappen nass, wringt ihn aus und legt ihn mir in den Nacken.
    »Alles okay«, murmele ich.
    »Ist es nicht.« Sie drückt mir ihren Handrücken auf die Stirn. »Kein Fieber. Könnte eine Lebensmittelvergiftung sein, denke ich. Was hast du zu Mittag gegessen?«
    Wieder fährt mir die Klinge durch den Bauch und ich unterdrücke ein Stöhnen. »Tomatensuppe und Cracker. Und Putensandwich zum Abendbrot, aber das haben wir doch alle gegessen.«
    »Ist dir übel?«
    Ich schüttele den Kopf.
    »Hast du beim Plätzchenstand irgendwas gegessen?«
    Ehe ich lügen kann, beginnt mein Kopf zu nicken. »Törtchen.«
    »Törtchen? Mehr als eins?«
    Ich nicke wieder. »Sie waren lecker.«
    »Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Törtchen so etwas auslöst. Vielleicht haben die ja rohe Eier in die Glasur getan. Kommst du klar, wenn ich mal kurz nach unten gehe? Ich möchte etwas nachschlagen.«
    »Was?« Ich beiße die Zähne zusammen. »Kein Problem. Kannst du mir einen Pfefferminztee mitbringen, wenn du wiederkommst?«
    »Du solltest nichts zu dir nehmen, bis dein Magen sich wieder beruhigt hat.«
    »Bitte, Jennifer. Ich weiß, dass mir das hilft.«
    »Na gut, jetzt beruhig dich. Einfach durchatmen. Der Pfefferminztee ist schon unterwegs.«
    Als sie weg ist, stöhne ich auf. Ich weiß genau, was los ist. Ich bin eine maßlose, verfressene Versagerin. Das Allerletzte. Mein Körper ist die supersüßen Kohlenhydrate in Verbindung mit Hexerei einfach nicht gewohnt. Er kommt ja kaum mit Suppe und Crackern zurecht.
    Wieder macht die Schwertklinge eine Drehung. Die Abführmittel, die ich hastig geschluckt habe, als wir nach Hause kamen, brennen im Gedärm. Außerdem sind meine Phosphatwerte wegen der unerwarteten Zuckerdosis völlig aus dem Lot. Und es besteht die Möglichkeit, dass ich so gut im Verhungern war, dass der rosafarbene, leere Ballonschlauch meines Darms nun geistergrau wird, während die Zellen aufgrund meiner Nachlässigkeit absterben. Oder aber Cassie hat auf ihrer Seite des Grabes eine Lebkuchen-Voodoopuppe von mir angefertigt und zerschnetzelt sie gerade mit dem Messer.
    Mein Kopf ist zu schwer, um gerade auf den Schultern zu sitzen. Ich beuge mich vor und lasse ihn zwischen den Beinen baumeln.
    »Lia?«
    Durch den Vorhang meiner Haare sehe ich Emmas Pantoffeln, die ins Bad geschlurft kommen. »Lia, wirst du sterben?« In ihrer Stimme schwingen Tränen mit.
    Ich zwinge mich dazu, mich aufzurichten und versuche, die schwarzen Löcher, die sich vor meinen Augen auftun, zu ignorieren.
    »Ich hab nur Bauchschmerzen, Schatz. Davon stirbt man nicht. Das wird wieder.«
    Jennifer bringt Emma zurück ins Bett. Sie hat

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