Wintermaerchen
Razzia in der Stadt machten, fiel ihnen Peter auf, wegen seiner seltsamen Kleidung. Sie nahmen ihn mit.
Er fand schnell heraus, dass das Heim von drei Männern geleitet wurde. Reverend Overweary selbst war eine tragische Figur. Sein tief empfundenes Mitleid für die armen Kinder lähmte ihn. Häufig brach er in Tränen aus. Er litt entsetzlich daran, dass andere Menschen so sehr leiden mussten. Deshalb hatte er weder Zeit noch Kraft, seiner »rechten Hand«, dem Diakon Bacon, auf die Finger zu schauen. Dieser Bacon fand mit sicherem Gespür in jedem Schub von Neuankömmlingen ein paar Knaben, die sich bei der Entlausung bereitwillig seine unzweideutigen und stürmischen Annäherungsversuche gefallen ließen. Der Augenblick der Wahrheit kam stets dann, wenn sich der Diakon den Knaben nach einem heißen Bad näherte, um das Entlausungsmittel zu applizieren. Als die Reihe an Peter Lake war, lehnte dieser es ab, von dem Diakon behandelt zu werden, und bestand darauf, das Insektenvertilgungsmittel selbst anzuwenden. Bei anderen Knaben hatte der hochgewachsene Geistliche mit der Hornbrille und der einem Vogelschnabel ähnelnden Nase mehr Erfolg. Reverend Overweary drückte jedes Mal beide Augen zu, wenn Diakon Bacon sich tagelang mit seinen Eroberungen in eine kleine Hütte zurückzog, die innen so ausgestattet war wie ein Gemach im Schloss eines Sultans auf einer Insel im Marmarameer.
Doch wie hätte Reverend Overweary seinem Diakon auch grollen können, wo doch sein eigenes Haus einem Palast ähnelte und die eingeschossigen, aus grauem Stein erbauten Unterkünfte der insgesamt zweitausend elternlosen Knaben zwergenhaft klein erscheinen ließ! Reverend Overweary liebte es, üppige Bankette und Ballabende zu veranstalten, zu denen er die Reichen, die Intelligenzija und die in der Stadt zu Besuch weilenden Mitglieder des Hochadels einlud. All diese Leute kamen nur, weil das Essen so gut war und weil sie glaubten, Overweary sei selbst steinreich und habe nur ein paar Millionen seines persönlichen Vermögens zu wohltätigen Zwecken abgezweigt. Doch die Wahrheit sah ganz anders aus: In Wirklichkeit lebte er von den kleinen Insassen seines Heimes, denn unter dem Vorwand, ihnen zu einer beruflichen Ausbildung zu verhelfen, lieh er sie gruppenweise an alle möglichen Arbeitgeber aus. Ungelernte Kräfte und Kinder erhielten für zwölf Stunden Arbeit am Tag ganze sechs Dollar. Overweary »vermietete« seine Knaben für fünf Dollar am Tag. Für Unterhalt und Verpflegung wendete er einen Dollar auf. Rein rechnerisch konnte er also täglich einen Nettogewinn von achttausend Dollar verbuchen, doch wurde dieses optimale Ergebnis nie ganz erreicht, denn es kam zu Krankheiten und Todesfällen. Vielen Insassen des Heimes gelang auch nach einiger Zeit die Flucht. Wie dem auch sei – der mitleidige Geistliche sammelte immer neue Knaben in den Straßen der Stadt auf, brachte ihnen das Arbeiten bei, rettete sie auf diese Weise vor dem Armenfriedhof und verdiente an ihnen im Lauf der Jahre Millionen. Wenn die Knaben irgendwann sein »Internat« verließen, hatten sie keinen Cent in der Tasche.
Peter Lake blieb, bis er fast erwachsen war. Und obwohl er wie ein Sklave schuften musste, war es für ihn das Paradies, und das wiederum lag an Reverend Mootfowl, der dritten Führungskraft in Overwearys Heim.
*
An dem Tag, als Peter Lake in der großen Maschinenhalle aufgegriffen wurde, leitete jener Reverend Mootfowl die Razzia. Zum Ärger der beiden Polizisten, die ihn begleiteten, hatte er darauf bestanden, die Ausstellungshalle mit all den Maschinen zu besichtigen, denn er brachte es nie über sich, an einer Musterschau technischer Geräte und Apparaturen vorbeizugehen. Mootfowl hatte von der ersten Stunde an zum Personal von Reverend Overwearys Heim gehört. Dort lag anfänglich vieles mit der Organisation im Argen. Deshalb hatte Overweary Mootfowl vor dessen »Priesterweihe« eine Reihe von technischen Lehranstalten besuchen lassen. Seitdem schien Mootfowl ein Mensch zu sein, der keine Gefühle, Begierden oder Sorgen kannte. Seine ganze Liebe galt der Metallverarbeitung, dem Schmieden, der Konstruktion von Maschinen und Pumpen, kurz allem, was mit Technik und Ingenieurkunst zu tun hatte. Unermüdlich betätigte er sich an der Esse oder an der Drehbank. Er bohrte, fräste, sägte und hobelte. Sein ganzer Lebensinhalt schien aus Stahl, Eisen und Holz zu bestehen. Es gab nichts, was er nicht bauen konnte. Er war mit Leib und Seele
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