Wintermaerchen
Zukunft in schwierigen Zeiten leichter aus dem Schatten hervor, sagte sie sich. Und vielleicht ist die endlose Zahl der Bilder und Szenen irgendwo wie in einer Galerie aufbewahrt, sodass alle Geschehnisse stets zugänglich sind und nichts für immer verloren ist. Die Totengräber auf dem Armenfriedhof, die sich beeilten, vor Einbruch der Nacht fertig zu werden, taten dies auch, um die Dunkelheit für alle Ewigkeit zu bezwingen.
Virginia überließ sich einem abendlichen Traum: Nach einem plötzlichen Donnerschlag fand sie sich in knöcheltiefem, frischgefallenem Schnee wieder. Da flog eine dunkle Kutsche heran, von einem dunklen Pferd gezogen. Ihre Räder waren vier Paradebeispiele für die Wirkungsweise der Hypnose. Virginia wusste nicht, wo sie war, und so drehte sie sich um, zu sehen, was sich hinter ihr befand. Sie erblickte graue, beschneite Eisengitter, Bäume und Straßenlaternen. Langsam ging der Traum jedoch in eine sommerliche Szenerie über. Und dann sah sie sich selbst, sah sich einen Kinderwagen an einem Seeufer entlangschieben. Sie war in einem Park mit Bänken und einer gepflasterten Uferpromenade. Am anderen Ufer spiegelten sich die Bäume verschwommen im Wasser. Die ganze Stadt war von dunklen Wäldern durchzogen. Virginia beugte sich über den Kinderwagen, um nach dem Baby zu sehen, aber er war leer. Der See hatte sich das Kind geholt, und es lag jetzt irgendwo unter Wasser. Da verdunkelte sich der helle Sommernachmittag. Virginia stand nun in einem dämmrigen Treppenhaus. Die schäbige, abgewetzte Wandtäfelung schimmerte im Zwielicht. Der Fußboden war mit Schutt und Abfällen übersät. Als sich Virginias Augen an das Dunkel gewöhnt hatten, erblickte sie ein kleines Mädchen. Es trug ein altmodisches Kleid und lehnte am Treppengeländer. Das Haar war der Kleinen ausgefallen, sie lutschte am Daumen und wurde von einer Art Lähmung geschüttelt. Aufrecht stand sie da, ganz allein – und kämpfte mit dem Tod. Virginia streckte die Arme aus, um das Kind an sich zu ziehen, aber sie konnte sich nicht bewegen, weil sie an das Geländer gefesselt war. Mit erstickter Stimme sprach sie auf das Mädchen ein, aber das Kind hörte sie nicht, sondern schwankte nur immer hin und her, als wüsste es nicht, dass eines der Anrechte Sterbender und Kranker darin bestand, sich hinlegen zu dürfen. Virginia versuchte verzweifelt, ihre Fesseln zu sprengen, und weinte, weil sie sich nicht bewegen konnte.
»Wach auf, wach auf!«, rief Mrs Gamely und rüttelte ihre Tochter. »Du hast geträumt, wach auf!« Sie schaltete das Licht ein, und Virginia fuhr erschrocken hoch. »Wie geht es ihr?«, erkundigte sich die alte Frau.
Virginia warf einen Blick auf Abby, die von einem Gewirr aus Schläuchen und elektrischen Leitungen umgeben war. Ihr Zustand hatte sich nicht verändert.
»Wenn die Ärztin heute Abend kommt, meine ich, dass wir einen Spaziergang machen sollten, um etwas frische Luft zu schnappen. Du bist seit einer Woche nicht mehr im Freien gewesen.«
»Und wo bist du gewesen?«, fragte Virginia, denn die Wangen ihrer Mutter waren geröteter als ein scharlachfarbener Apfel vom Coheeries-See.
»Ich war bei einem Vortrag, Liebes. Bitte reg dich nicht auf. Er wurde von diesem Mann gehalten, den du nicht ausstehen kannst, ich meine Mr Binky. Mir gefiel er recht gut, obwohl sein Vokabular sehr zu wünschen übrig lässt. Er sprach sehr bewegend von seinem Ururgroßvater Lucky Binky, der mit der Titanic unterging. Es hat mich eigentümlich berührt, dass Mr Binky immer Gigantic sagte, wenn er die Titanic meinte.«
Mrs Gamely wusste nicht, dass Craig Binky sie während seines Vortrags unablässig beobachtet und anschließend Alertu und Scroutu befohlen hatte, sie zu finden. Sofort fingen sie an, in der ganzen Stadt nach der kräftig gebauten, klopsrunden, weißhaarigen Frau zu suchen, die ihnen Mr Binky nur als »diese Seraphina, diese liebliche weiße Rose« beschrieben hatte.
Virginia blickte ihre Mutter fassungslos an. Wie hatte sie wegen eines Vortrags von – ausgerechnet! – Craig Binky Abbys Krankenbett verlassen können? Aber Mrs Gamely fand das völlig normal. Im Gegensatz zu ihrer Tochter, den Ärzten und Experten war sie fest davon überzeugt, dass dem schwerkranken Kind nur eine ganz bestimmte Breipackung verabreicht werden musste, um es auf den Weg der Genesung zu bringen. Sicherheitshalber trug sie diese Packung in der Tasche mit sich herum, doch jedes Mal, wenn sie den Vorschlag machte, sie zu
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