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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
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applizieren, brüllten die anderen sie an, als wäre sie eine Idiotin. Das hatte Mrs Gamely sehr entmutigt. Ihrer Ansicht nach war es eine Schande, dass das Kind so leiden musste, weil die Ärzte nur den seltsamen Apparaten und dummen Medikamenten vertrauten, die nichts taugten. Sie spielte mit dem Gedanken, sich einfach über das Verbot hinwegzusetzen. Dazu war sie durchaus in der Lage, denn zu all dem Kleinkram, den sie in ihrer Reisetasche mit sich führte (u. a. einen lebendigen, wenngleich total traumverlorenen Hahn), gehörte auch eine Schrotflinte, und einem solchen Gerät kann man eine gewisse Überzeugungskraft ja nicht absprechen. Allerdings war sich die alte Dame ihrer selbst nicht mehr so sicher, wie sie es einmal gewesen war. Sie befand sich hier nicht am Coheeries-See. Deshalb ließ sie die anderen gewähren, und obgleich sie die Breipackung ständig parat hielt, wagte sie es nicht, sie anzuwenden. Was wäre, wenn das Kind dadurch nur noch kränker würde?
    Die Ärztin kam an diesem Abend später als sonst. Nachdem sie Abby untersucht hatte, gingen Mrs Gamely und Virginia hinaus in den Schnee, während eine Krankenschwester bei dem kleinen Mädchen Wache hielt.
    »Wohin möchtest du gehen?«, fragte Virginia.
    »Irgendwohin«, antwortete ihre Mutter. »Schau nur, wie du zitterst. Du brauchst Bewegung, um wieder etwas zu Kräften zu kommen.«
    Sie gingen stundenlang spazieren, in Kreisen und großen Bögen. Mit leisen Schritten kamen sie an schäbigen, abweisenden Lagerhallen vorüber, die vom Schnee überpudert waren wie Zuckerkuchen. Virginia erzählte ihrer Mutter von dem Traum. Mrs Gamely hörte schweigend zu. Erst gegen Ende des Berichts unterbrach sie ihre Tochter, und in ihrer Stimme lag plötzlich ein seltsames Drängen: »Tauchte das Baby wieder aus dem See auf und klatschte es in die Hände?«
    »Nein, das Baby ist nie wieder aufgetaucht. Aber später, als es ein paar Jahre älter war, habe ich es noch einmal gesehen. Ich traf die Kleine im Treppenhaus einer Mietskaserne.« Virginia erzählte, wie der Traum ausgegangen war. »Ich glaube, es ist ziemlich eindeutig«, stellt sie am Ende fest.
    »Du denkst wohl, das kleine Mädchen in deinem Traum sei Abby gewesen, und du glaubst, dass du alles nur geträumt hast, weil du so viel Angst um sie hast?«
    »Was sollte es sonst bedeuten?«
    »Möglicherweise bedeutet es nichts, sondern hat nur einen Selbstzweck. Ein Traum ist kein Schlüssel zu dieser Welt, sondern eine Brücke zu einer anderen. Nimm ihn so, wie er ist.«
    »Aber was soll ich damit anfangen?«
    »Nichts. Er ist einfach nur etwas Schönes. Du musst überhaupt nichts mit ihm anfangen.«
    »Oh, Mutter!«, sagte Virginia, den Tränen nahe. »Abby wird sterben, und alles, was Hardesty und dir einfällt, ist in der Stadt herumzuwandern und daherzuschwatzen wie irgendwelche Mystiker oder Vertreter. Herrgott, die Hälfte der Zeit weiß ich nicht, wovon ihr redet und was ihr meint, und Abby hilft es kein bisschen weiter!«
    »Virginia!«, sagte Mrs Gamely und wollte ihre Tochter umarmen.
    »Nein, lass mich!«, sagte Virginia.
    Die alte Frau nahm den Arm ihrer Tochter, und durch den Schnee traten sie den Rückweg zum Krankenhaus an. Wortlos schritten sie dahin, nur der Wind heulte, und alle Viertelstunde schlugen die Kirchenglocken. Trotz der nebeligen Kälte fühlten sich die beiden Frauen innerlich trocken und erhitzt.
    Auf einem kleinen Platz in Chelsea erblickten sie die Statue eines Soldaten aus dem ersten großen Krieg. Er war den weißen Wolken aus Nebel und Schnee, die durch die Straßen heulten und sich auf den Plätzen zu kleinen Wirbelwinden verdichteten, hilflos ausgeliefert. Die beiden Frauen blieben stehen, um die Inschrift auf dem Sockel zu entziffern. Sie lautete:
    Für die Soldaten und Matrosen von Chelsea .
    »Erinnerst du dich an dieses Standbild?«, fragte Mrs Gamely.
    »Nein«, erwiderte Virginia, ein wenig schuldbewusst.
    »Als du ein kleines Mädchen warst, da fuhren wir in die Stadt, um deinen Vater abzuholen, der aus dem Krieg heimkehrte. Entsinnst du dich nicht daran?«
    »Nein, daran kann ich mich überhaupt nicht erinnern.«
    »Es war damals sehr schwierig, in die Stadt zu gelangen, aber wir schafften es. Wir warteten mehrere Monate. Ein Truppentransporter nach dem anderen lief in den Hafen ein. Viele Männer waren gefallen, aber ihre Familien hatten Telegramme erhalten. Von Theodore hatten wir zwar nichts gehört, nahmen aber gerade deshalb an, dass er noch am Leben

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