Wintermaerchen
schon bald war es von noch höheren Kolossen eingerahmt. Nur für die Brücken galt dies nicht. Sie spannten sich mit elegantem Schwung über die Flüsse, für immer allein in luftiger Höhe. Mootfowl hegte für Brücken eine geradezu andächtige Verehrung. Er hatte an mehreren mitgewirkt, und als er eine Tages hörte, dass an einer breiten Stelle des East River eine weitere Brücke nach Brooklyn hinübergeschlagen werden sollte, war er eine Woche lang vor Freude ganz aus dem Häuschen, denn er wusste, dass eine Brücke dieser Länge viele speziell geschmiedete Bauteile benötigen würde. Später würden auch Reparaturen anfallen, die nur von Experten durchgeführt werden konnten. Mootfowl erzählte seinen jungen Gehilfen sichtlich ergriffen davon, wie er eines Tages, als die vier Hauptkabel der Brooklyn Bridge schon über den Fluss gespannt waren, von Colonel Roebling den ehrenhaften Auftrag erhalten hatte, einen Schaden zu beheben. Dabei habe er in schwindelnder Höhe über dem Wasser geschwebt wie ein Sturmvogel und zur Freude der Passagiere, die tief unten mit der Fähre über den Fluss fuhren, seine Arbeit ausgeführt.
»Wisst ihr was?«, sagte Mootfowl mit ehrfürchtiger Bewunderung. »Jackson Mead ist mit hundert guten Männern und Säcken voll Geld, das er wer weiß wo aufgetrieben hat, von Ohio herübergekommen, um noch eine Brücke zu bauen! Sie sind nach einem Sturm hier eingetroffen. Der weiße Wolkenwall ließ sie tagelang nicht durch, doch als er sich für kurze Zeit ein wenig hob, sauste der Zug unter ihm durch. Ein paar Bauern wurden Zeugen, wie der Zug den unteren Rand des Wolkenwalls streifte. Es heißt, dass die Dächer der Wagons ziemlich übel zugerichtet sind.« Mootfowl machte eine kurze Pause. Dann fuhr er fort: »Aber ob das nun stimmt oder nicht – jetzt ist Jackson Mead hier, und bald geht es los mit der Brücke. Wir sollten für ihn beten.«
»Aber warum?«, fragte ein aufmüpfiger Bursche, der immer etwas zu mäkeln hatte.
Mootfowl warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. »Brücken sind etwas ganz Besonderes. Ist euch noch nicht aufgefallen, wie zierlich sie im Vergleich zu ihrer Größe sind? Sie sind feingliedrig wie Vögel, und sie verkörpern und krönen unsere allerkühnsten Ziele. Ihre Form gleicht der Wölbung des Himmels. Mein Gott, man stelle sich vor: Meilenlange Trossen, an denen freischwebend eine stählerne Brückenkonstruktion hängt! Ich bin zwar Geistlicher, aber ich möchte dennoch die Behauptung wagen, dass eine solche wunderbare, anmutige Hängebrücke, dieses Glanzstück der Ingenieurkunst, diese vollkommene Balance zwischen Rebellion und Gehorsamkeit, eines jener irdischen Dinge ist, die Gottes Handschrift tragen. Mich deucht, dass es dem Herrn gefällig ist, wenn wir Menschen Brücken schlagen. Vielleicht ist deshalb die Stadt so reich an Geschehnissen. Seht nur, die ganze Insel wird zu einer Kathedrale!«
Viel war über Jackson Mead nicht bekannt. Man wusste lediglich, dass er im Westen des Landes viele schöne Hängebrücke über die großen Ströme gebaut hatte. In manchen Fällen hatte es Jahre gedauert, bis endlich bodenlose Abgründe und Schluchten überwunden waren. Die Zeitungen hatten berichtet, Jackson Mead habe einmal gesagt, eine Stadt sei erst dann wahrhaftig groß, wenn sie über hohe Brücken verfüge. Auf einer Pressekonferenz in den Räumen seines Unternehmens hatte er verkündet: »Verglichen mit San Francisco oder New York bieten die Karten von London und Paris ein geradezu langweiliges Bild. Eine wahrhaft großartige Stadt darf nicht aussehen wie ein rundliches, sorgsam gehätscheltes Organ oder wie irgend so ein herz- oder nierenförmiges Gebilde, halb erstickt von einem dicken Batzen Grün! Sie muss über ihre Grenzen hinauswachsen, sich in alle erdenklichen Richtungen erstrecken. Sie darf sich nicht aufhalten lassen von Wasserflächen und Halbinseln, Hügeln und steilen Bergeshängen und muss mithilfe von Brücken auch die Inseln erreichen.« Ein Reporter hatte gefragt, wieso er San Francisco als Beispiel brachte, obwohl es dort gar keine Brücken gebe. Daraufhin hatte er lächelnd geantwortet: »Das war ein Fehler von mir.«
Jackson Meads körperliche Erscheinung sicherte ihm die Aufmerksamkeit der Presse – und der Damenwelt. Er war von hünenhaftem Wuchs, hatte schneeweißes Haar und einen buschigen Schnurrbart. Stets trug er Anzüge mit einer weißen Weste, an der vorne die Platinkette seiner Taschenuhr baumelte. Diese Uhr war fast so
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