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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
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verfassen. Da es eine Fülle von Geschichten darüber zu erzählen gab, wie das alte Zeitalter gestorben war, würde die Zeitung am nächsten Tag fast so dick sein wie eine typische Ausgabe des Ghost (den man übrigens wegen Stromausfalls hatte schließen müssen). Beispielsweise waren Tiere im Zoo und die Reitpferde in den Ställen an der West Side dermaßen außer Rand und Band geraten, dass man sie frei gelassen hatte. Durch die Brände in Panik geraten, galoppierten sie in Herden herum und rasten zwischen brennenden Häusern durch die Straßenschluchten. »Wenn sie um eine Straßenecke biegen«, schrieb der Reporter der Sun , »hat der verschwommene Anblick ihrer weichen Felle und muskulösen Rücken etwas von einem fließenden Strom an sich.«
    Im Vergleich mit den Menschen jedoch waren die Tiere ein Musterbeispiel an Korrektheit und Selbstbeherrschung. In den Straßen flitzten zahllose Autos hin und her. Alle Verkehrswege, die aus der Stadt hinausführten, waren von Fahrzeugen und Menschen verstopft, die zwischen den Trümmern verzweifelt nach einem Ausweg suchten. Aber es führten keine Wege mehr aus der Stadt hinaus. Das Ergebnis war, dass die Menschen von einer blockierten Ausfallstraße zur anderen hetzten. Mit neunzig oder gar hundert Meilen in der Stunde rasten die Autos über die Straßen und Boulevards. Kam es zu Zusammenstößen – und deren gab es viele –, dann fuhren die, die heil davonkamen, einfach weiter. Jede Minute konnte man an jedem Häuserblock erleben, wie ein Wagen außer Kontrolle geriet und in einen Laden oder die verschreckte Menschenmenge auf dem Bürgersteig krachte. Die Spannung wurde nicht eben dadurch gemildert, dass alle Wagen der Feuerwehr und der Polizei in der Stadt mit Sirenengeheul hin und her fuhren. Panzer und Hubschrauber der Miliz vergeudeten ihren Treibstoff auf der Suche nach den Inseln, die sie auf Praeger de Pintos Geheiß bewachen sollten.
    Auf den Brücken drängten sich Abertausende von Flüchtlingen. Sie strömten über die unbeleuchteten Fahrbahnen, und sie wussten nicht, dass der Vorstadtgürtel um Manhattan herum nur noch eine einzige Feuermauer war. Die Kinder auf dem Rücken, Aktentaschen und Bündel in den Händen, stapften sie in betäubtem Schweigen dahin. Die Straßen wurden zu einem riesigen Trödelladen, da die Leute eine unendliche Menge an Dingen wegtrugen, die sie retten wollten. Zu Tausenden flohen sie mit Büchern, Gemälden, Kandelabern, Vasen, Geigen, alten Uhren, Elektrogeräten, Säcken voll Tafelsilber, Schmuckkästchen und – man höre und staune – Fernsehapparaten. Die praktisch Gesinnten brachen beladen mit Rucksäcken voller Nahrungsmittel, Werkzeugen und warmer Kleidung über den Riverside Drive nach Norden auf. Doch hatte ein Mann mit einer Kettensäge über dem Rücken mitten im Winter und in einer Welt, die völlig aus den Fugen geraten war, wirklich noch eine echte Chance?
    Nicht Zehntausende, sondern Hunderttausende von Plünderern strömten in die Geschäftsviertel. Da die ehrgeizigeren unter ihnen auf die Idee verfielen, die Wände der Bankgebäude mit Bulldozern zu durchbrechen, hörte man bald Dynamitladungen detonieren, mit denen ein Tresorraum nach dem anderen aufgesprengt wurde. Doch als die Brennstoffdepots Feuer fingen und die Miliz anfing, rund um die Inseln Feuerschneisen zu sprengen, waren die einzelnen Explosionen kaum noch voneinander zu unterscheiden. Außer sich vor Freude und vollbeladen mit Beutegut bewegten sich die Plünderer im Schneckentempo vorwärts; sie schoben, zogen oder schleiften Kühlschränke, große Möbelstücke, ganze Kleiderständer und Säcke voll Geld mit sich. Die verwaisten Geldsäcke waren am ärmsten dran, denn kaum hatten sie einen »Vater« gefunden, wurde dieser erschossen, und ein anderer adoptierte sie. Dies wiederholte sich unablässig. Hätte man den Weg der Geldsäcke verfolgt, so wäre daraus so etwas wie eine Geschichte über hüpfende Bälle geworden, kunstvoll jongliert von den Mächten wahnwitziger Geldgier. Die auf den Straßen zurückbleibenden Sachen ließen auch die teuersten Stadtviertel wie verlassene, ausgebrannte Slums aussehen. Kaum jemand hätte zu sagen gewusst, wo die Menschen mit ihrem Diebesgut eigentlich hinwollten. Sie bewegten sich zumeist im Kreis, aber sie schienen außer sich vor Freude, dass sie nun dies oder jenes Neue besaßen. Da es keine Behausungen mehr gab, in denen sie hätten leben können, stand zu erwarten, dass sie wahrscheinlich nie auf den

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