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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
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mitansehen musste, wie Abertausende von Flammen in der Dunkelheit loderten und wie sie nach allem gierten, das noch nicht verbrannt war. Bis ins Innerste war er verletzt von diesen sieghaften Wolken aus Rauch und Dampf, die orangefarbenes Licht widerspiegelten und sich über die Stadt wälzten und wie Teig aufblähten. Sie schienen die zerstörten, ausgebrannten Häuserblocks auszulachen, die sie so feige sich selbst überlassen hatten.
    Im Unterschied zu den anderen erinnerte sich Harry Penn an die Zeit, da die Stadt noch jung gewesen war. Die Leute waren damals im Allgemeinen freundlicher und auch fähiger als ihre Nachkommen, die Stadt selbst anders, nämlich unschuldiger gewesen. Die längst verschwundenen Straßen mit ihren Biegungen und Kutschen, die Flanken und Mähnen der Karrengäule – all dies gehörte ebenso der Vergangenheit an wie der weiche, fließende Schnitt der Kleidung. Allein schon diese Dinge waren eine Art Gebet gewesen, das stets gnädiges Gehör fand. Gott und die Natur hatten Wohlgefallen gefunden an der unsterblichen, vollendeten Linienführung der Kurven, an den Pferden, der tastenden Suche nach Ausdruck und der bemerkenswerten Fähigkeit der Stadt, sich ihrer Stellung in dieser Welt bewusst zu sein. Dafür war die Stadt mit klaren Nordwinden und einem tiefblauen Himmelsgewölbe belohnt worden. Diese Stadt, die Harry Penn gekannt und geliebt hatte, war jung und neu gewesen.
    Während einer der kurzen Atempausen drehte sich Praeger zu Harry Penn um und sah, dass das vom grellen Feuerschein schwach erleuchtete Gesicht des alten Mannes voller Schmerz war. »Was ist los?«, fragte er.
    »Sagen wir es so«, antwortete Harry Penn. »Ein liebliches Kind, das ich einst kannte, ist alt geworden und innerlich verhärtet. Jetzt stirbt es einen hässlichen Tod.«
    »Das stimmt nicht«, sagte Praeger. »Es stirbt nicht. Hier werden neue Wege gebahnt.«
    »Ich nehme an, dass ich zu alt und einer bestimmten Zeit zu sehr verhaftet bin, um jemals den Glauben an sie zu verlieren«, erwiderte Harry Penn.
    »Schauen Sie«, sagte Praeger. »Dort draußen, in der Nacht, sehe ich schon eine neue Stadt erstehen.«
    Harry Penn blickte hinaus, aber er sah nur die Vergangenheit, von der er so oft träumte.
    »Eigentlich hätte ich mir gedacht«, fuhr Praeger fort, »dass gerade Sie begreifen würden, warum dies geschieht. Ich glaubte, Sie wüssten Bescheid. Die Sun wird doch weiterhin erscheinen, nicht wahr?«
    »Wir sind noch keinen einzigen Tag ausgefallen.«
    »Die Sun ist zur Zeit das einzige beleuchtete Gebäude in dieser Stadt – wie ein Leuchtturm.«
    »Das kann nicht sein«, erwiderte Harry Penn. »Bei der Sun ist alles dunkel. Die Maschinen sind gestoppt, und die Mechaniker sagen, sie brauchen sechs Monate, um alles zu reparieren. Als ich vor ein paar Stunden ging, arbeiteten alle bei Kerzenlicht. Wir beschlossen, die Sonderausgabe der beiden Blätter notfalls per Hand durch mit Muskelkraft betriebene Pressen laufen zu lassen.«
    »Dann muss ich Sie bitten, mit mir zu kommen«, sagte Praeger. Er legte die Arme um Harry Penns Schultern und führte ihn auf die Ostseite. Praeger liebte diesen alten Mann von ganzem Herzen.
    Zunächst sahen sie nichts weiter als eine graue Wolke, die, schwer von Asche und Glut, vorbeischwebte. Doch dann, als würde sie hochgestemmt, hob sich diese Wolke langsam und schwerfällig, und ganz unten unter ihrem schmuddeligen Rocksaum schimmerte ein Licht hervor.
    In der Dunkelheit, die am Printing House Square herrschte, glitzerte das Gebäude der Sun wie ein geschliffener Diamant.
    Überraschend scharf gebündelte und präzis ausgerichtete Lichtbalken brachen durch die Fenster und tauchten den Platz in einen diffusen Widerschein. Wie scharfe Schwerter zerteilten diese Strahlenbündel die Finsternis, den Zweigen einer Silberdistel oder den metallisch harten Darstellungen des Lichts auf dem Kreuz des heiligen Stephan vergleichbar.
    »Da!«, sagte Praeger. »Das ist der Lohn der Tugend.«
    Doch Harry Penn wusste es besser. »Nicht einmal tausend Jahre Tugend sind stark genug«, erwiderte er, »um das Licht zu bändigen. Etwas … etwas weitaus Größeres als Tugend muss ganz nahe sein.«
    Wenig später machte sich Harry Penn auf den Rückweg zur Sun, und Praeger übernahm wieder die Führung in dem schwierigen Kampf unten in der Stille, für den er wahrscheinlich geboren war.
    *
    Während Harry Penn über den Printing House Square ging, war sein Blick unverwandt auf das Licht der Sun

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