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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
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plötzlich genauso ehrfürchtig wie die Trumbulls. »Ich will ihn mir nur anschauen .«
    »Er ist dort hinten«, sagte Trumbull und zeigte in die Richtung. »Zwei Reihen weiter, beim Kompressor um die Ecke und dann ein Stück den Gang zwischen den Generatoren entlang …«
    Harry Penn war schon unterwegs. Er ging an zwei Maschinenreihen vorbei, bog beim Kompressor ab und folgte dem schmalen Gang, bis er vor einem Mann stand, der an eine leise vor sich hinschnurrende Maschine gelehnt saß und schlief.
    Zuerst konnte Harry Penn sein Gesicht nicht sehen. Zitternd kniete er sich hin und schützte seine Augen vor dem hellen Licht einer Birne, die in einem trichterförmigen Blechschirm brannte. Und dann sah er es! Er sah, worauf kein Mensch einen Anspruch hat, auch wenn er hundert Jahre alt geworden ist. Er sah die Vergangenheit auferstehen, er sah die Vergangenheit triumphieren. Er sah Zeit und Tod besiegt. Er sah Peter Lake.
    Peter Lake nach fünfundachtzig Jahren unverändert vor sich zu sehen bedeutete nicht nur, dass die Zeit besiegt werden konnte, sondern auch, dass die, die man geliebt hatte, nicht einfach für alle Zeiten verschwunden waren. Wie er Peter Lake dort vor sich schlafen sah, wäre Harry Penn zufrieden an Ort und Stelle gestorben. Aber wie das Unglück kommt auch das Glück selten allein, und so war dies nicht das letzte bedeutsame Ereignis, das Harry Penn erleben sollte. Auch er selbst wählte nicht diesen Augenblick, um zu sterben, sondern griff nach Peter Lakes Handgelenk und schüttelte es, um ihn zu wecken. Noch im Schlaf zog Peter seinen Arm zurück und sagte: »Das ist es nicht, was ich von Ihnen wissen wollte.«
    »Aufwachen! Wachen Sie auf!«, rief Harry Penn außer sich vor Freude, doch so sehr er ihn auch schüttelte – Peter Lake schlief weiter. Da griff Harry Penn auf den alten und wirksamen Weckruf zurück, den er damals im Krieg angewendet hatte. Er lehnte sich ganz nah über Peter Lakes rechtes Ohr und rief, so laut er konnte: »Handgranate!«
    Urplötzlich verwandelte sich Peter Lakes Körper in einen Blitzstrahl. Er fuhr in die Höhe und schaffte es irgendwie, so lange in der Luft zu schweben, bis er jeden Zollbreit des Fußbodens geprüft hatte. Als er landete, sah er einen sehr alten Mann mit einem breiten Lächeln vor sich stehen.
    »Weshalb haben Sie das getan?«, fragte Peter ihn.
    »Sie wollten nicht aufwachen. Es ist gut – aber was sage ich da? Es ist nicht nur gut, es ist großartig, es ist ein Wunder, das größte Glück meines Lebens, dass ich Sie wiedersehe!«
    Peter Lake sah ihn besorgt an. »Sind wir uns schon einmal begegnet?«
    Harry Penn warf den Kopf in den Nacken und lachte wie besessen.
    »Ich bin Harry Penn!«, sagte er.
    »Sie sind der Verleger der Sun? Dann sind Sie mein Boss. Aber wir haben uns noch nie gesehen.«
    »Oh doch«, erwiderte Harry Penn und wippte fröhlich in den Knien. »Vor mehr als fünfundachtzig Jahren! Ich war damals noch nicht einmal fünfzehn. Natürlich erkennen Sie mich jetzt nicht wieder, aber ich kenne Sie. Sie sind keinen Tag älter geworden. Ha!«
    Peter Lake sah sich den alten Mann genauer an, während er auf die Fortsetzung der Geschichte wartete. Er versuchte sich vorzustellen, wie Harry Penn als Junge ausgesehen haben mochte, aber das erwies sich als recht schwierig.
    Harry Penn hingegen, der immer noch hingerissen war (er sollte es bis zu seinem Tode bleiben), schlug sich auf die Schenkel. Dann besann er sich.
    »Wissen Sie«, sagte er strahlend, »das erinnert mich an einen Tag in meiner Kindheit, als wir oben in den Bergen unterwegs zum Coheeries-See waren. Ich glaube, ich war vier Jahre alt. Es war ein herrlicher Junimorgen, und in dem Gasthof, in dem wir übernachteten, schickte mein Vater gerade ein Telegramm ab, oder er wartete auf eins – ich weiß es nicht mehr. Ich konnte es kaum abwarten, zum Coheeries-See zu kommen, doch man sagte mir, wir würden erst am Nachmittag losfahren. Da kletterte ich zu einer hohen Stelle hinauf, die den halben Sonnenschein auf sich zu versammeln schien. Von dort konnte man die ganze Welt überblicken. Ich fand einen Flecken mit Blaubeeren und war schon bald ganz ins Pflücken vertieft. Sicher wäre ich noch länger dort geblieben, hätte mein Vater mich nicht gerufen und wäre da nicht ein Zug die Serpentinen heraufgekommen. Die Gleise waren ganz in meiner Nähe, und ich wusste, er würde an mir vorbeikommen. Als ich ihn näher kommen sah, war ich furchtbar aufgeregt. Ich wollte ihn

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