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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
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anhalten, denn ich wusste: Sobald er an mir vorbeifährt, verschwindet er für immer. Und weil ich schon im Voraus traurig darüber war, dass er weiterfahren würde, beschloss ich, ihn anzuhalten, selbst auf die Gefahr hin, dass ich ihn zerstören musste. Und wissen Sie, wie ich das bewerkstelligen wollte?«
    Peter Lake schüttelte verneinend den Kopf.
    »Ich wollte eine Blaubeere auf ihn werfen!«, sagte Harry Penn. Seine Stimme war zu einem heiseren Flüstern geworden. »Ich nahm die größte Blaubeere, die ich finden konnte, und postierte mich neben den Gleisen, erfüllt von der Schuld, dass ich einen schönen Zug zerstören würde, nur weil ich ihn so sehr liebte. Ich erinnere mich noch, dass ich vor Gewissensbissen zitterte, als er näher und immer näher auf mich zukam. In dem Augenblick, als die Siebzig-Tonnen-Lokomotive neben mir war, verfluchte ich die ganze Welt und schleuderte meine Blaubeere gegen den Zug. Ich weiß nur noch, wie das Dienstabteil an mir vorbeizog. Der Zug fuhr quer durch die Wiesen, in die ich mich wegen der vielen Bienen zwischen den wilden Blumen nicht hineingetraut hatte, und verschwand oben an der Brücke in den hellen Schneefeldern. Nie im Leben war ich so erleichtert. Ein riesiger Stein war mir vom Herzen gefallen. Ich raste hinunter ins Hotel und beschloss, nie wieder mit Blaubeeren nach einer Lokomotive zu werfen.« Harry Penn machte eine kurze Pause und fuhr dann fort: »Als ich Sie sah, dachte ich, Sie würden über unser Wiedersehen genauso überrascht sein wie ich, aber Sie hatten nicht die leiseste Idee, wer ich bin, nicht wahr?«
    »Nein, Sir, ehrlich gesagt nicht.«
    »Zu glauben, Sie könnten mich wiedererkennen oder ich würde Ihnen etwas bedeuten, war wohl ebenso eitel wie die Vorstellung, eine siebzig Tonnen schwere Lokomotive mit einer kleinen Beere zum Entgleisen zu bringen. Schon damals kannten Sie mich kaum. Aber erinnern Sie sich nicht an meine Schwester?«
    »Nicht dass ich wüsste. Sehen Sie, ich weiß, das alles stimmt, was Sie da über die Zeit vor hundert Jahren erzählen. An vieles erinnere ich mich nur bruchstückhaft.«
    »Sie wissen auch nicht, wer Sie selbst sind?«
    »Nein.«
    »Aber ich!«
    »Ich wäre sehr erleichtert, wenn Sie mich einweihen würden. Es liegt mir auf der Zunge, seit man mich aus dem Hafen gefischt hat.«
    »Sie wissen nicht einmal Ihren eigenen Namen?«
    »Nein, Sir, nicht einmal den.«
    »Dann kommen Sie!«, sagte Harry Penn. »Kommen Sie mit mir hinauf, und ich zeige Ihnen, wer Sie sind, nicht in Worten, sondern mithilfe schöner Bilder, die auf keinen Fall nachgemacht oder gefälscht sind. Dann werden Sie ganz genau wissen, wer Sie sind, für alle Zeiten, denn dann wissen Sie, was Sie lieben.«
    Sie stiegen die außen am Gebäude angebrachten Feuertreppen empor. Peter Lake presste die Hand auf seine Seite. Jeder Schritt bedeutete größeren Schmerz, denn die Wunde war nicht geheilt. Trotzdem glitt er fast fliegend die Stufen hinauf, und als sie oben ankamen, schwebte er über den Treppenabsatz hinauf und musste sich irgendwo festhalten, sonst wäre er an die Decke gestoßen. Einem Lehrling, der das sah, fiel vor Staunen nicht nur der Unterkiefer herunter, sondern auch ein dicker Stapel Papiere, den er auf dem Arm trug. Ein leichter Windstoß wehte die Blätter mit derselben grazilen Unbeschwertheit in die Halle hinab, wie Peter Lake die Stufen hinaufgeschwebt war.
    Nur mit eiserner Disziplin und Konzentration konnte sich Peter Schritt für Schritt durch die langen Gänge bewegen. Wenn er sich auch nur einen Augenblick lang gehen ließe, das wusste er, würde er durch die Wände und ins Freie stoßen, um auf etwas zuzurasen, das ihn mit wachsender und grenzenloser Schnelligkeit an sich zog. Er fragte sich, woher die Kraft kam, die es ihm ermöglichte, so schnell zu laufen und sogar zu schweben.
    All sein innerer Aufruhr legte sich, als er die goldene und blaue Aura der Gemälde erblickte, die auf einem langen Tisch in Harry Penns Büro standen. Sie waren leicht nach hinten geneigt, sodass Peter Lake und Beverly in die Ferne zu blicken schienen. Farben, zu einem Kranz gebündelt, brachen aus den lebensgroßen Porträts hervor, blau, rosa und gelb pulsierten sie in der Luft, entstehend und vergehend wie sonnendurchflirrte Gischt über der Brandung. Fast hätten Peter Lake und Harry Penn geglaubt, dass die Bilder tatsächlich lebten. Der dunkle Hintergrund mit seinem weichen Glanz war keineswegs flach. Ein starker, breiter Lichtstrahl,

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