Wintermörder - Roman
Unbehagen und Angst. Ein Knacken in der Leitung ertönte, das Freizeichen. Die Frau hatte aufgelegt.
Denise konnte sich nicht erlauben, zu viel darüber nachzudenken. Sie wählte bereits die nächste Nummer. Wieder hatte sich am anderen Ende jemand entschlossen, nicht abzunehmen, oder war nicht zu Hause. Erst bei Ryszard Kadow Nr. 2 hatte sie wieder Erfolg. Diesmal eine Männerstimme. Jung. Dasselbe Spiel.
»Hallo?«
»Ryszard Kadow?«, fragte sie.
»Nie.«
»Ryszard Kadow? Ich muss ihn unbedingt sprechen.« Sie wechselte automatisch in die englische Sprache »Please, is this the number of Ryszard Kadow?«
»It’s my father.«
Die erlösende Antwort. Denise kamen die Tränen. Ihr Gegenüber musste es spüren, denn er fragte: »How can I help you?«
»I want to speak to your father. It’s important, very important.«
»Germany?« kam die Frage zurück »Sind Sie deutsch?«
»Ja, ja, mein Name ist Winkler. Winkler Denise. Ich … ich muss Ihren Vater sprechen.«
»Er ist nicht hier, er arbeitet in Deutschland.«
»In Deutschland? In Frankfurt?«
»Berlin.«
Eine neue Welle der Verzweiflung überfiel Denise. »Berlin«, wiederholte sie. »Hat er nie in Frankfurt gearbeitet?«
»Nein.«
»Und für die Firma Winkler aus Frankfurt? Hat er für sie gearbeitet?«
Kurzes Zögern am anderen Ende. »Ja, aber nicht in Frankfurt. In Krakau. Er hat gearbeitet für das Zentrum in Kazimierz.«
»Sie meinen das Einkaufszentrum, das abgebrannt ist?«
»Ja.«
»Wie kann ich Ihren Vater finden?«
Schweigen am anderen Ende.
»Wie ist Ihr Name?«
»Denise Winkler.«
»Wie kann ich Sie erreichen?«
»Hotel Matejko.«
»Sie sind in Krakau?«
»Ja.«
»Ich werde ihn fragen.«
Wieder ein Knacken, und das Gespräch war beendet.
Während sie eine Nummer nach der anderen angerufen hatte, hatte ihr Handy ständig geklingelt. Sie hielt es in der Hand. Ein kurzer Blick auf die Nummern genügte, um zu wissen, wer der Anrufer war. Immer wieder Oliver, ihr Vater, Myriam und Liebler. Sie hörte die Mailbox nicht ab.
Verzweifelt rutschte sie an der Bettkante hinunter und blieb auf dem Boden sitzen. Das letzte Gespräch hatte ihre ganze Kraft gekostet. Sie zitterte. Die Zähne schlugen aufeinander. Sie zog die Bettdecke herunter und wickelte sich darin ein.
Ein Irrtum. Es musste ein Irrtum sein. Das Schicksal hatte einen entsetzlichen Fehler gemacht, und das musste ihm gesagt werden. In einer gerechten Welt könnte das nie geschehen. Oder war es nur ein Unglück? Diese unbekannte Größe, mit der man sein Leben nicht planen konnte und ohne sie auch nicht. Wie konnte man dann überhaupt ein Leben planen?
Es war kein Unglück. Sie war als Mutter unfähig, wie Oliver gesagt hatte, denn sie hatte nicht aufgepasst.
Sie schloss die Augen, sah ihren Sohn. Wie er allein in einem Zimmer saß. Ihm war kalt. Er zitterte. Er kannte die Sprache nicht. Er hatte Hunger, er hatte Angst. Er weinte. Er schrie.
Wo war er?
In einem Keller? In einem Erdloch? In einer Kiste? Irgendwo in einem Haus im Wald? Vielleicht war er schon tot. Wer konnte so grausam sein, das einem Kind anzutun? Ihr anzutun? Sie waren nicht schuld. Trugen keine Verantwortung. Wofür? Wofür trug sie keine Verantwortung?
Sie durfte nicht einschlafen.
Nur ihr Körper war müde, nicht ihr Bewusstsein. Vor ihrem inneren Auge liefen die Gedanken wie Reklame in Leuchtschrift. Blinkende Spruchbänder. Dort draußen in der Stadt war ihr Kind. Sie spürte es. Sie fühlte es. Mochten die anderen sagen, was sie wollten. Sie hatte schon, als er noch ein Baby war, gespürt, wann er schreien würde. Noch bevor er aufwachte, stand sie an seinem Bett. Wenn er irgendwo dort draußen war, dann musste es doch eine andere Möglichkeit geben, ihn zu finden, als in einem Telefonbuch zu blättern. Eine ermüdende Arbeit, die so konträr war zu dem, was sie fühlte. Wie immer alles in ihrem Leben konträr zu ihren Gefühlen gelaufen war. Parallel. Unmöglich konnten sich die äußere und ihre innere Lebenslinie treffen. Nicht einmal in der Unendlichkeit.
Nein, schlafen durfte sie erst wieder, wenn sie ihn gefunden hatte. Sie stellte sich vor, wie sie schreiend durch Krakau lief. Wie sie sich auf den Marktplatz stellte. Mit dem Foto ihres Sohnes. Mit dem Foto ihres Großvaters auf dem Wawel. Sie würde Tag für Tag durch die Stadt laufen und Frederiks Namen rufen. Sie würde alles verkaufen, was sie besaß. Alles
in die Waagschale werfen. Die Firma, das Haus, ihr Leben.
Sie würde die
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