Wintermond
Stein um Stein niederreißen, aber nichts errichten, das sie ersetzen kann.«
»Das mag zwar stimmen, aber...«
»Er hat gesagt, wenn alles zusammenbricht, würde man von den Cops erwarten, daß sie es zusammenhalten, aber bis dahin hätte man den Cops schon so vieles in die Schuhe geschoben und sie so oft als die Bösen hingestellt, daß niemand sie mehr so sehr respektieren würde, daß sie es zusammenhalten können.«
Zorn war Almas Zuflucht vor der Trauer. Nur der Zorn gab ihr die Kraft, die Tränen zurückzuhalten.
Obwohl Heather befürchtete, daß die Methode ihrer Freundin, mit der Trauer fertig zu werden, nicht besonders gesund war, fiel ihr nichts ein, was sie als Ersatz anbieten könnte. Anteilnahme reichte nicht aus. Alma und Luther waren sechzehn Jahre verheiratet gewesen und hatten sich sehr geliebt. Da sie keine Kinder bekommen konnten, hatten sie sich besonders nah gestanden. Heather konnte sich die Tiefe von Almas Schmerz nicht einmal vorstellen. Es war eine harte Welt. Wirkliche Liebe – wahre und tiefe - fand man nur mit Glück einmal. Sie zweimal zu finden, war fast unmöglich. Obwohl Alma erst achtunddreißig Jahre alt war, mußte sie den Eindruck haben, daß die beste Zeit ihres Lebens vorbei war. Sie brauchte mehr als nur freundliche Worte, mehr als nur eine Schulter, an der sie sich ausweinen konnte. Sie brauchte jemanden oder etwas, worauf sie wütend sein konnte - Politiker, das System. Vielleicht war ihre Wut doch nicht so ungesund. Vielleicht wäre das Land nicht in ein so gefährliches Fahrwasser geraten, wenn schon vor ein paar Jahrzehnten mehr Leute wütend geworden wären.
»Hast du Waffen?« fragte Alma.
»Eine.«
»Was für eine?«
»Eine Pistole.«
»Kannst du damit umgehen?«
»Ja.«
»Du brauchst mehr als nur eine Pistole.«
»Ich fühle mich in der Gegenwart von Waffen nicht besonders wohl.«
»Jetzt berichten sie im Fernsehen darüber - und morgen wird es in allen Zeitungen stehen -, was auf Arkadians Tankstelle passiert ist. Die Leute werden wissen, daß ihr beide, du und Toby, allein seid, Leute, die Cops oder Polizistenfrauen nicht besonders mögen. Irgendein blöder Reporter wird wahrscheinlich sogar deine Adresse drucken. Heutzutage muß man auf alles vorbereitet sein, auf alles.«
Almas Paranoia, die gar nicht zu ihr zu passen schien und für Heather völlig überraschend kam, jagte Heather eine Gänsehaut über den Rücken. Obwohl sie angesichts des eisigen Funkelns in den Augen ihrer Freundin zitterte, fragte ein Teil von ihr sich, ob Almas Einschätzung der Situation nicht vernünftiger war, als es den Anschein hatte. Daß sie solch eine paranoide Sicht ernsthaft in Betracht ziehen konnte, genügte, um sie erneut erzittern zu lassen, diesmal heftiger als zuvor.
»Du mußt auf das Schlimmste vorbereitet sein«, sagte Alma Bryson, nahm die Schrotflinte und drückte sie ihr in die Hände. »Nicht nur dein Leben steht auf dem Spiel. Du mußt auch an Toby denken.«
Da stand sie, eine schlanke und hübsche Schwarze, ein Jazz- und Opern-Fan, eine Museumsbesucherin, gebildet und kultiviert, so warmherzig und liebevoll wie kaum ein zweiter Mensch, den Heather kannte, mit einem Lächeln begabt, das wilde Tiere zähmen konnte, und zu einem musikalischen Lachen imstande, auf das Engel neidisch gewesen wären, und hielt eine Schrotflinte, die in den Händen einer so hübschen und zarten Frau absurd groß und böse wirkte, einer Frau, die den Zorn willkommen geheißen hatte, weil die einzige Alternative zur selbstmörderischen Verzweiflung war. Alma kam ihr vor wie eine Gestalt auf einem Poster, das zur Revolution aufrief, nicht wie ein wirklicher Mensch, sondern wie ein übertrieben romantisches Symbol. Heather hatte das beunruhigende Gefühl, daß sie nicht nur eine gequälte Frau ansah, die versuchte, sich dem Griff der bitteren Trauer und lebensunfähig machenden Hoffnungslosigkeit zu entziehen, sondern die grimmige Zukunft ihrer gesamten gequälten Gesellschaft, die Botin eines alles auslöschenden Sturms.
»Sie reißen die Schutzmauern unserer Ordnung Stein für Stein nieder«, sagte Alma ernst, »errichten aber nichts, was sie ersetzen kann.«
SIEBTES KAPITEL
Neunundzwanzig ereignislose Nächte lang wurde die Ruhe über Montana nur von gelegentlichen Attacken eines winterlichen Windes, dem Schrei einer jagenden Eule und dem fernen, verlorenen Heulen der Wölfe gestört. Allmählich erlangte Eduardo Fernandez sein übliches Selbstvertrauen zurück und sah
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