Wintermond
Identität des Eindringlings bestreiten, der in der Nacht des zehnten Juli eine Schmutzspur im Haus hinterlassen hatte. Er hatte von Anfang an gewußt, welchen Gedanken er unterdrückte. Auch wenn er sich so sehr betrunken hatte, daß er alles um sich herum vergaß, hatte er es gewußt. Auch wenn er so getan hatte, als wisse er es nicht, hatte er es gewußt. Und er wußte es jetzt erst recht. Er wußte es, lieber Gott im Himmel. Eduardo hatte keine Angst vor dem Sterben gehabt. Er hatte den Tod fast willkommen geheißen. Nun hatte er wieder Angst vor dem Sterben. Es ging über bloße Angst hinaus. Er war körperlich krank vor Entsetzen. Er zitterte und schwitzte. Der Reisende hatte zwar durch nichts angedeutet, auch die Kontrolle über einen lebenden Menschen übernehmen zu können...doch was war, wenn er, Eduardo, tot war? Er nahm das Schrotgewehr vom Tisch, fischte die Autoschlüssel vom Schlüsselbrett und ging zu der Verbindungstür zwischen Küche und Garage. Er mußte sofort aufbrechen, durfte keine Sekunde zögern, mußte hier raus und weit weg. Zum Teufel mit seiner Absicht, mehr über den Reisenden zu erfahren - und eine Konfrontation zu erzwingen. Er würde einfach in den Cherokee steigen, das Gaspedal durchtreten, alles überfahren, was ihm in den Weg kam, und eine gewaltige Entfernung zwischen sich und das Ding bringen, das über die schwarze Schwelle in die Nacht über Montana gekommen war. Er riß die Tür auf, blieb aber auf der Schwelle zwischen Küche und Garage stehen. Wohin sollte er denn? Er hatte keine Familie mehr. Keine Freunde. Er war zu alt, um ein neues Leben anzufangen. Und ganz gleich, wohin er auch ging, der Reisende würde noch immer hier sein, mehr über die Welt in Erfahrung bringen, seine perversen Experimente durchführen, alles Heilige beschmutzen, ungeheuerliche Gewalttaten gegen alles begehen, das Eduardo je geschätzt hatte. Er konnte nicht vor ihm davonlaufen. Er war noch nie in seinem Leben vor etwas davongelaufen; doch es war nicht der Stolz, der ihn innehalten ließ, bevor er auch nur einen Fuß in die Garage gesetzt hatte. Lediglich sein Verständnis für das Richtige und das Falsche, die grundlegenden Werte, die ihn durch ein langes Leben gebracht hatten, verhinderten, daß er floh. Wenn er diesen Werten den Rücken zuwandte und wie ein feiger Waschlappen davonlief, würde er sich nicht mehr im Spiegel ansehen können. Er war alt und allein, und das war schon schlimm genug. Alt und allein zu sein und von Abscheu vor sich selbst verzehrt zu werden... das wäre unerträglich. Er wäre zwar gern geflohen, doch diese Möglichkeit stand ihm nicht offen. Er trat von der Schwelle zurück, schloß die Tür zur Garage und legte die Schrotflinte auf den Tisch. Er kannte eine Finsternis der Seele, die vielleicht niemand außerhalb der Hölle je zuvor gekannt hatte.
Die tote Krähe zappelte, versuchte, sich aus dem Sieb loszureißen. Eduardo hatte dickes Garn benutzt und sichere Knoten genäht, und die Muskeln und Knochen des Vogels waren zu schwer beschädigt, als daß das Tier genug Kraft aufbringen konnte, um sich zu befreien. Sein Plan kam ihm jetzt töricht vor. Ein Akt bedeutungsloser Tapferkeit - und des Wahnsinns. Eduardo Fernandez machte trotzdem damit weiter, weil er lieber etwas unternahm als demütig auf das Ende wartete. Auf der hinteren Veranda hielt er das Sieb gegen die Rückseite der Küchentür. Die gefangene Krähe kratzte und warf sich gegen das Drahtgeflecht. Mit einem Bleistift markierte Eduardo die beiden Stellen, an denen die Öffnungen der Griffe das Holz berührten.
Er hämmerte zwei Nägel in diese Markierungen und hängte das Sieb an ihnen auf. Die Krähe, die noch immer schwach kämpfte, aber an der Tür festhing, war durch das Drahtgeflecht deutlich auszumachen.
Doch man hätte das Sieb zu einfach von den Nägeln heben können.
Mit zwei U-förmigen Nägeln pro Griff befestigte er das Sieb an der stabilen Eichentür. Das Hämmern hallte den langen Hang hinauf und wurde von der Kiefernmauer des Waldes zurückgeworfen. Um das Sieb zu entfernen und an die Krähe zu kommen, mußte der Reisende oder sein Surrogat die beiden U-förmigen Nägel an mindestens einem Griff herausziehen. Die einzige andere Möglichkeit bestünde darin, das Drahtgeflecht mit einer großen Schere aufzuschneiden und das tote Tier dann hinauszuziehen. So oder so - man konnte den Vogel nun nicht mehr schnell und leise befreien. Eduardo würde früh genug mitbekommen, falls sich
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