Wintermond
sondern aus der Erde. Es näherte sich der Tür, kam noch näher und war schließlich an der Tür. Der unverschlossenen Tür. Stille. Eduardo mußte nur drei Schritte tun, die Hand auf die Klinke legen, die Tür nach innen aufziehen, und er würde dem Besucher von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Aber Eduardo konnte sich nicht bewegen. Es war, als wäre er so fest in dem Boden verwurzelt wie die Bäurne in dem Hügel hinter dem Haus. Obwohl er den Plan ausgearbeitet hatte, der die Konfrontation beschleunigt hatte, obwohl er nicht geflohen war, als er noch Gelegenheit dazu gehabt hatte, obwohl er überzeugt war, daß seine geistige Gesundheit davon abhing, daß er diesem äußersten Schrecken entgegentrat und die Begegnung hinter sich brachte, war er wie gelähmt. Ich wäre vielleicht besser doch geflohen, sagte er sich. Das Ding war still. Es war da draußen, aber es war still. Nur ein paar Zentimeter von der anderen Seite der Tür entfernt. Was machte es? Wartete es darauf, daß Eduardo den ersten Schritt unternahm? Oder studierte es die Krähe in dem Sieb? Die Veranda war dunkel, und durch die Rouleaus drang nur wenig Licht nach draußen. Konnte es die Krähe also wirklich sehen? Ja. O ja, es konnte im Dunkeln sehen, darauf ging er jede Wette ein, es konnte besser sehen als jede verdammte Katze, weil es der Dunkelheit entstammte. Der alte Mann nahm das Ticken der Küchenuhr mit durchdringender Schärfe wahr. Obwohl sie schon immer dort gestanden hatte, hatte er sie all die Jahre nicht gehört, weil das Geräusch ein Teil des Hintergrunds geworden war, weißer Lärm, doch jetzt vernahm er es lauter denn je, als wäre ein jeder ihrer langsamen Schläge ein Trommelwirbel bei einem Staatsbegräbnis. Komm schon, komm schon, bring's hinter dich. Diesmal drängte er nicht den Reisenden, sein Versteck zu verlassen. Er spornte sich selbst an. Komrn schon, du Arschloch, du Feigling, du dummer; alter, törichter Narr, komm schon, komm schon, komm schon. Er ging zur Tür und blieb links von ihr stehen, um sie an sich vorbei aufziehen zu können. Hätte er eine Hand auf die Klinke gelegt, hätte er die Schrotflinte nur noch mit der anderen Hand halten können, und das war ihm zu gefährlich. Nichts da. Sein Herz hämmerte schmerzhaft gegen seine Rippen. Er spürte den pochenden Pulsschlag in seinen Schläfen. Er roch das Ding durch die geschlossene Tür. Ein ekelerregender Gestank, sauer und faulig, ein Geruch, wie er ihn noch nie in seinem Leben wahrgenommen hatte. Die Klinke vor ihm, die Klinke, die er nicht berühren konnte, schlank und poliert, silbern und glänzend, wurde millimeterweise hinabgedrückt. Ein funkelndes Licht, eine Reflexion der Küchenlampe, bewegte sich über den Griff, der mit aufreizender Langsamkeit hinabgedrückt wurde. Ganz langsam. Ein leises Knirschen erklang, Messing, das an Messing rieb. Der Puls dröhnte und donnerte in seinen Schläfen. Das Herz schien in seiner Brust so stark anzuschwellen und so heftig zu schlagen, daß es gegen die Lungen drückte und das Atmen schwierig und schmerzhaft machte. Plötzlich glitt die Klinke wieder hoch. Die Tür blieb geschlossen. Der Augenblick der Enthüllung wurde hinausgeschoben, würde vielleicht sogar völlig aus bleiben, falls der Besucher sich zurückzog...
Mit einem gequälten Schrei, der ihn selbst überraschte, ergriff Eduardo die Klinke und riß die Tür mit einer krampfhaften, heftigen Bewegung auf, um seiner schlimmsten Furcht entgegenzutreten. Das verlorene junge Mädchen, seit drei Jahren im Grab und jetzt zurückgekehrt: eine drahtige und verwickelte Masse von grauem Haar, von Erde verfilzt, augenlose Höhlen, die Haut trotz der Balsamierungsflüssigkeit scheußlich verfallen und dunkel, weiße Knochen, die stellenweise in dem ausgetrockneten und stinkenden Gewebe sichtbar wurden, die Lippen von den Zähnen zu einem breiten, aber humorlosen Grinsen zurückgezogen. Das verlorene Mädchen stand in ihrem zerfetzten und von Würmern zerfressenen Leichenhemd da, blau in blau gemustertes Gewebe, von den Flüssigkeiten des Zerfalls befleckt. Sie war auferstanden und zurückgekehrt, griff mit einer Hand nach ihm.
Ihr Anblick erfüllte Eduardo Fernandez nicht nur mit Entsetzen und Ekel, sondern auch mit Verzweiflung, o Gott, er versank in einem Meer aus kalter, schwarzer Verzweiflung darüber, daß dies aus Margarite geworden, daß sie auf das unaussprechliche Schicksal aller Lebewesen herabgesetzt worden war...
Es ist nicht Margarite, nicht
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