Wintermond (German Edition)
über Skepsis bis hin zu vollkommener Fassungslosigkeit. Es war, als ob er seine Mimik überhaupt nicht steuern konnte, wodurch er sich nur umso dämlicher und hilfloser vorkam. Deshalb kam ihm nichts anderes in den Sinn, als erst einmal aus diesem Raum zu verschwinden, um Abstand von dem Ereignis und insbesondere Ben zu bekommen. Also stürzte er völlig übereilt zur Tür und riss sie auf. Dann drehte er sich noch einmal zu Ben um und sah, wie dieser noch immer wie erstarrt dastand und ebenfalls völlig überfordert zu sein schien. Alex sah ihm ein letztes Mal fest in die Augen, bevor er sich schließlich ganz abwandte und das Badezimmer in hastigen Schritten verließ.
Im Flur angekommen schaffte er gerade mal wenige Schritte zur Seite, bevor er wieder zum Halt kam. Mit seinem Rücken lehnte er sich gegen die Wand, warf seinen Kopf in den Nacken und ließ ihn einige Male bedacht gegen die Mauer fallen.
„Scheiße ...“, murmelte er dabei und kniff seine Augen zusammen. „Scheiße, Scheiße, Scheiße!“
Kapitel 15
Wie versteinert stand Ben im Bad und wagte es nicht, sich zu bewegen. Er blickte ausdruckslos geradeaus und versuchte das soeben Geschehene zu verarbeiten. Erst als das Prickeln in seinem Körper fast vollkommen verschwunden war, taumelte er einen Schritt vorwärts und ließ sich auf dem kühlen Badewannenrand nieder. Dann spürte er plötzlich ein leichtes Brennen an seinen Handgelenken und damit die Folgen von Alex’ festem Griff. Doch das störte ihn nicht. Stattdessen starrte er weiterhin vor sich ins Leere und ließ die letzte Szene wieder und wieder in seinem Kopf Revue passieren. Alex und er hatten sich geküsst. Sie hatten sich nicht nur einmal, sondern gleich mehrmals geküsst. Zwischen den Küssen hatte es Pausen gegeben, die Alex rechtzeitig hätten vernünftig werden lassen können, doch der Blonde hatte nicht aufgehört, sondern sich dem Geschehen und der Lust völlig hingegeben.
Erneut bahnte sich ein gewaltiges Druckgefühl durch Bens Magengegend. Ein so starkes Kribbeln, dass es beinahe wehtat. Dann musste er grinsen. Er konnte nicht anders. Seine Lippen formten wie von selbst ein genügsames und beinahe erhabenes Lächeln, das vermutlich aufgrund der vielen Glückshormone in seinem Inneren entstand. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal derart zufrieden gewesen war. In jenem Moment konnte ihn nichts von seiner guten Laune abbringen. Die Situation war perfekt und er selbst wie ausgewechselt. Dennoch versuchte er nachzuvollziehen, wie es überhaupt zu dem Kuss gekommen war. Er wusste es nicht und erinnerte sich lediglich daran, dass Alex die Initiative ergriffen hatte - beide Male. Bei diesem Gedankenzug entstand das Bild von Alex’ Blick vor seinem geistigen Auge und jagte einen heißen Schauer über seinen Rücken. Nie zuvor hatte jemand ihn so fordernd und tiefsinnig in die Augen geblickt, wie Alex es soeben getan hatte. Zwischen ihnen war in den letzten zwei Wochen etwas entstanden, das Ben nicht beschreiben konnte. Sie waren einander vertraut geworden und hatten dennoch eine Distanz zwischen sich entwickelt, die bis eben unüberwindbar für Ben erschienen war. Doch jetzt hatten sie genau diese Hürde genommen, sich einander hingegeben und waren einfach ihren Gefühlen gefolgt. Schon seit dem Kuss in der Küche hatte Ben vermutet, dass Alex vielleicht auch etwas Interesse an ihm haben könnte, sich allerdings bislang nicht darauf hatte einlassen wollen. Vielleicht aus Angst, schwul sein zu können. Alex hatte von Beginn an etwas gegen Ben gehabt und ihn aufgrund seiner Homosexualität ziemlich herablassend behandelt. Aber genau das lieferte Ben den Anhaltspunkt, dass Alex ebenfalls schwul sein könnte. Bei seinem Exfreund, Nick, war es damals nicht anders gewesen. Ben hatte recht früh herausgefunden, dass er auf Männer stand, während sich Nick, in den er schon länger verliebt war, immer heftig dagegen gewehrt hatte. Auch Nick hatte ihn beschimpft und beleidigt und nichts mit ihm zu tun haben wollen, bis sie es irgendwann unter Alkoholeinfluss miteinander getrieben hatten. Danach hatte Nick seine Gefühle nicht mehr verstecken können und aus den beiden war tatsächlich ein Paar geworden.
Diese Geschichte ähnelte sehr der jetzigen Situation mit Alex. Doch bei dem Blonden war Ben skeptischer gewesen, hatte ihn von Beginn an nicht gut einschätzen können. Alex war ihm gegenüber immer so distanziert gewesen, dass das Verhältnis der beiden zueinander
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