Wintermond (German Edition)
dabei so stark, dass Alex Mühe hatte, ihn zu verstehen. Seinen Arm hatte der Typ noch nach hinten gestreckt und hielt so die Tür auf.
„Ja“, erwiderte Alex.
Er blickte nicht einmal auf, sondern tat weiterhin konzentriert und schob einen Schlüssel nach dem nächsten auf dem kleinen silbernen Ring nach hinten.
„Diese Scheißkälte ...“, fügte er noch hinzu, nahm seine Hände kurz hoch und hauchte sie erwärmend an.
„Geh schon rein, Mann!“, forderte der Unbekannte ihn auf und nickte hinter sich in Richtung des Flures.
Alex blickte daraufhin höflich lächelnd auf und ließ von seinem Schlüsselbund ab. Er nahm die noch angelehnte Tür entgegen und bedankte sich nachbarschaftlich. Der Typ schien sich allerdings nicht weiter für ihn zu interessieren und schritt wortlos davon.
Alex hingegen war erleichtert, trat ein und ließ die marode Tür hinter sich zufallen. Aufgrund seines zufälligen Glücks bildete sich sogar ein kurzes, selbstsicheres Grinsen auf seinen Lippen. Das Treppenhaus war bereits beleuchtet. Dennoch betätigte Alex den Lichtschalter ein weiteres Mal, denn er befürchtete, dass das Licht sonst womöglich innerhalb der nächsten Sekunden erlöschen würde. Dann schob er sich die Kapuze vom Kopf und kämmte sich erneut mit den Fingern ein paar blonde Haarsträhnen aus dem Gesicht. Er rümpfte seine Nase. Im Treppenhaus roch es noch schlimmer als beim letzten Mal, als er an diesem Ort gewesen war. Neben dem penetranten Mief nach Zigaretten glich der Gestank dem einer gammelnden Mülltonne.
Alex schüttelte sich und machte sich schließlich schnellen Schrittes auf den Weg in die oberste Etage. Das Treppengeländer mied er dabei lieber, da es keinen besonders vertrauenswürdigen Eindruck auf ihn machte. Einige der Holzsprossen waren bereits zerbrochen, andere fehlten vollständig. Als er sich kurze Zeit später im dritten Stockwerk befand, verweilte er. Er blickte zu der Wohnungstür, neben welcher sich eine große Topfpflanze befand und begann sich an den Einbruch mit Diego zu erinnern. Binnen weniger Sekunden zogen die Bilder jenes Ereignisses an seinem inneren Auge vorbei und sorgten sogar für den Hauch eines schlechten Gewissens. Wieder einmal musste er an den Studenten denken und daran, wie Diego diesen brutal zusammengeschlagen hatte. Seitdem hatte der Italiener Alex auf keine Fragen bezüglich dieser Sache mehr geantwortet, weshalb der Blonde mittlerweile fest davon überzeugt war, dass Diego den Studenten umgebracht hatte. Immerhin hatte dieser die beiden während ihrer kriminellen Tat erwischt und erkannt. Noch lebend hätte er sie womöglich längst der Polizei ausgeliefert.
Alex kniff seine Lippen zusammen und schluckte stark. Dann wandte er den Blick wieder ab und eilte die letzten Stufen bis zu Diegos Dachgeschosswohnung empor. Doch hier erwartete ihn schon die nächste, böse Überraschung, mit der er eigentlich hätte rechnen müssen. Das ganze emotionale Durcheinander in seinem Kopf hatte ihn in den letzten Stunden tatsächlich so stark beeinflusst, dass er überhaupt nicht mehr logisch gedacht und geplant hatte. Doch jetzt kehrte wieder alles in seinen Verstand zurück. Er begann sich an die SMS von Diego zu erinnern, in der dieser ihm geschrieben hatte, dass er untertauchen würde, weil die Typen, denen sie das Geld schuldeten, seine Wohnung demoliert hatten.
Alex stöhnte auf und musste ein weiteres Mal kräftig schlucken. Verärgert wegen seiner eigenen Dummheit presste er seine Lippen fest zusammen und begann die kaputte Wohnungstür nachdenklich zu betrachten. Das Holz neben der Türklinke war zersplittert und auf dem verrosteten Türschloss klebte ein weißrotes Polizeisiegel, das bis zum ebenfalls mitgenommenen Türrahmen reichte.
Polizeilich versiegelt! Widerrechtliche Entfernung oder Beschädigung der Versiegelung wird strafrechtlich verfolgt , stand auf dem weißen Papierstreifen neben einem aufgedruckten Polizeiwappen, wiederum daneben befanden sich von Hand ausgefüllte Zeilen mit Datum, Telefonnummer, Name und Unterschrift. Alex erschrak. Ein unangenehmes Gefühl begann durch sein Inneres zu ziehen, als ob sich in jenem Moment all seine Eingeweide zusammenkrampfen würden. Die Polizei war längst hier gewesen und wusste von der demolierten Wohnung, folglich vermutlich auch von dem Einbruch bei Diegos Nachbarin und dem Studenten, den der Italiener brutal zusammengeschlagen und vielleicht sogar ermordet hatte.
Unsicher taumelte Alex einen Schritt
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