Wintermond (German Edition)
betont hinzufügen, dass solche Fälle nicht selten wären.
Ein gemischtes Gefühl von Entsetzen und Erstaunen kam in ihm auf. Er war fassungslos darüber, in was für Bahnen er sein Leben gelenkt hatte und in was für einer fürchterlichen Sackgasse er sich nun aufgrund dessen befand. Tief im Inneren wusste er, dass weder der Tod seiner Mutter noch etwas anderes aus seiner Vergangenheit der Auslöser für seine Probleme war. Er wollte kein psychologisches Standard-Gutachten erhalten und in irgendeine Zelle gesperrt werden, in der man ihn wie ein kleines, dummes Kind behandeln würde. Nur er allein war für all das verantwortlich, was geschehen war. Genau diese Erkenntnis war es, die ihm in jenem Moment erschreckte und Angst machte. Offenbar hatte er von Natur aus eine kriminelle Ader oder war einfach verrückt geworden. Er hatte sich für einen dreckigen, schmierigen Weg entschieden und sich dabei fortwährend eingeredet, dass er dies aus Trauer, Verzweiflung, Selbsthass und Einsamkeit getan hatte. Genau das erschien ihm nun bemitleidenswert, denn er hatte niemals so enden wollen. Er wollte kein Arschloch, kein Einbrecher und kein Mörder sein. Irgendwo, tief in seinem Inneren, loderte noch ein letzter Funken Hoffnung und Wissen darüber, dass er eigentlich einen anderen Charakter hatte. Doch dieser klitzekleine Funken drohte zu erlöschen, wenn er nicht schnellstens etwas dagegen tun würde. Aber das konnte er nicht, denn er hatte sich mittlerweile zu sehr verändert. Er musste stark bleiben, sich einfach nichts anmerken lassen. Vermutlich brachte man ihn nicht einmal in Zusammenhang mit irgendetwas von dem, was in diesem Gebäude geschehen war. Ja, vielleicht würde er sauber aus der ganzen Sache herauskommen und den ganzen Mist eines Tages einfach hinter sich lassen können.
Ein letztes Mal betrachtete er das kleine, weiße Siegel und musste daraufhin erneut schäbig grinsen. Das Teil war doch bloß ein Aufkleber und bedeutete keineswegs das absolute Aus. Wahrscheinlich hatte er sich bloß unnötige Gedanken gemacht, sich versehentlich in etwas hineingesteigert. Dieser inneren Stimme schenkte Alex Glauben. Er nickte bekräftigend und wandte sich daraufhin von der Wohnungstür ab. Aufgrund der unangenehmen Umstände musste er nun eine andere Nachtbleibe suchen. Er wollte sowieso noch etwas trinken gehen, ein paar Mädels anbaggern und sich damit von all seinen Sorgen und Sams Tod ablenken. Vielleicht würde er ja Glück haben, jemand Hübsches ausfindig machen und die kommende Nacht neben ihr im Bett verbringen können. Er atmete einmal tief durch, drehte sich noch ein letztes Mal zu Diegos Wohnung um und eilte die Treppe dann wieder hinunter. Die Panik in ihm war von einer auf die nächste Sekunde verschwunden. Allerdings hielt dieses befreiende Gefühl nicht lange an. Schon in der nächsten Etage erschrak er erneut und versuchte sich dennoch nichts anmerken zu lassen. Die Tür der Wohnung, in die er und Diego eines Nachts eingebrochen waren, war angelehnt. Hinter der Tür stand jemand und beobachtete ihn. Im dämmrigen Licht konnte er lediglich die schwammige Silhouette einer älteren Frau erkennen. Wie angewurzelt blieb er stehen, kniff konzentriert die Augen zusammen und versuchte mehr von der Frau zu erkennen. Ein mulmiges Gefühl dehnte sich in ihm aus und er hatte große Mühe, sich seine Aufregung nicht anmerken zu lassen. Die ältere Frau wirkte ängstlich. Alex blickte noch einen letzten Moment in ihre Richtung, bevor er sich wieder abwandte, unbeeindruckt tat und seinen Weg fortsetzte. Er durchquerte erst den zweiten, dann den ersten Stock und beschleunigte seine Schritte dabei wie automatisch. Zwischendurch sah er immer mal wieder hinter sich, um sich zu vergewissern, nicht von der unbekannten Frau verfolgt zu werden. So sehr er sich auch bemühte, durchkroch ihn bereits wieder das altbekannte Gefühl der Angst, längst mit dem Einbruch in Verbindung gebracht worden zu sein. Wie von selbst griff seine rechte Hand unter seine Jacke in die hintere Hosentasche und zog sein Handy hervor. Im Telefonbuch suchte er flüchtig nach Diegos Namen und versuchte, während er durch das Erdgeschoss ging, den jungen Italiener zu erreichen. Doch durch das mobile Telefon hallte ihm lediglich ein unaufhörliches Freizeichen entgegen. Innerlich fluchte er, weil er dringend mit Diego sprechen wollte, um sich nach Neuigkeiten zu erkundigen und zu hinterfragen, ob dieser vielleicht mehr als er selbst wusste. Doch Diego
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