Wintermond (German Edition)
„Jetzt sind wir doch eh schon da.“
Er schaltete den Motor aus und zog den Schlüssel aus der Zündung. Anschließend löste er seinen Gurt, nahm noch sein Portemonnaie und stieg schließlich aus. Ben tat es ihm gleich und schritt um den Wagen herum auf ihn zu.
„Das bringt wirklich Spaß!“, versuchte er Alex zu überzeugen. „Glaub mir!“
Alex blickte eine Weile zur beleuchteten Eisfläche, bevor er sich wieder an Ben wandte und ihn schüchtern anlächelte. Er war froh über jede Minute, die er in dessen Nähe verbringen durfte. Deshalb war es ihm relativ gleichgültig, was sie zusammen unternehmen würden.
„Solange du dabei bist, soll mir alles Recht sein“, sagte er deshalb.
Ben blickte ihn daraufhin überrascht an.
„Bist du wirklich Alex ... oder nur jemand, der ihm ziemlich ähnlich sieht?“, fragte er verblüfft.
„Spinner!“, gab der Blonde daraufhin kopfschüttelnd zurück.
„Wollen wir dann?“, fragte Ben und begann bereits ein paar Schritte rückwärts zu gehen. Dabei deutete er mit seinem Daumen in Richtung der Eisfläche.
„Von wollen kann wohl kaum die Rede sein“, entgegnete Alex.
Doch Ben ignorierte diesen Kommentar. Er wandte sich um und ging voran. Alex folgte ihm schließlich. Sie gingen ein Stück geradeaus und passierten dabei die kahlen Bäume, auf deren Ästen und Zweigen sich dünne Schneeschichten gebildet hatten. Dann bogen sie rechts ab und folgten einem weiteren kurzen Weg. Die Schneeflocken, die auf sie herabrieselten, waren größer geworden. Sie verfingen sich in ihren Haaren und hafteten an ihrer Kleidung.
Nach etwa hundert Metern kamen sie schließlich an der umzäunten Eisfläche an und schauten sich um. Auf dem Eis waren die verschiedensten Menschentypen vertreten: Kleine Kinder, die herumtobten, Familien, die lachend ihre Runden drehten, Jugendliche, die sich gegenseitig herausforderten und sich quer über die Eisfläche laute Dinge zuriefen und Pärchen, die am Rand standen, sich küssten oder einfach nur miteinander turtelten. Das gesamte Bild hätte aus einem Bilderbuch stammen können. Alles schien so perfekt zu sein. Die Leute hatten Spaß, die Lichter ließen die Atmosphäre gemütlich wirken und der zusätzliche Schnee rundete das ganze Bild noch zusätzlich ab. Alex wurde nachdenklich. Eigentlich wirkte die Eisbahn recht einladend auf ihn, aber andererseits weckte ihr Anblick melancholische Gefühle in ihm. Es kam ihm vor, als ob das Bild zu perfekt wäre und er deshalb nicht in dieses hineinpasste. Außerdem machte es ihm zu schaffen, dass seine Eltern, insbesondere Jo, nie etwas Derartiges mit ihm unternommen hatten. Es war, als ob er in jenem Moment begriff, dass er bisher viele Dinge im Leben verpasst hatte - wichtige Dinge, die einem Freude bereiteten. Es war ihm fremd, einfach nur Spaß zu haben. Lediglich sein bester Freund, Sebastian, hatte ihn öfter mal aus seinem emotionalen Tief herausgezerrt. Ansonsten hatte er immerzu funktionieren müssen und dabei möglichst in Jos Fußstapfen treten sollen.
„Alex?“, rief Ben und fuchtelte mit seiner Hand vor dessen Gesicht herum.
„Hm? Was?“, gab der Blonde verstört zurück und versuchte dabei aus seinem Gedankentief zu erwachen.
„Mann, ich hab’ dich jetzt schon dreimal gefragt, welche Schuhgröße du hast. Was ist denn los mit dir?“, fragte Ben.
„Nichts!“, tat Alex schnell ab. „Wirklich nicht!“, er pausierte kurz. „Ach, ja ... ähm ... 45!“
„Okay“, erwiderte Ben, „ich werd’ dann mal bezahlen gehen und Schlittschuhe holen.“
„Ja, warte!“, sagte Alex daraufhin und holte sein Portemonnaie aus der Jackentasche.
„Nein, lass gut sein! Ich mach’ das schon“, erwiderte Ben und demonstrierte Alex dabei, das Portemonnaie wieder verschwinden zu lassen. Das war eine weitere Charaktereigenschaft, die Alex an dem Dunkelhaarigen schätze. Ben setzte nicht voraus, dass er alles bezahlte, sondern behandelte ihn ganz normal und nicht wie den Sohn eines reichen Architekten. Das war etwas, was Alex nicht gewohnt war. Es fühlte sich gut an.
Dankbar nickte er.
„Bin gleich wieder da!“, verabschiedete Ben sich flüchtig und verschwand gleich darauf hinter einer Gruppe von Kindern im Menschengewimmel.
Alex blickte ihm noch eine Weile nachdenklich hinterher, bevor er sich weiter umsah. Die Eisfläche wirkte durch das Licht und dem darauf liegenden Neuschnee recht hell in der bereits eingetretenen Dunkelheit. Sie leuchtete förmlich. Vom Rand aus ragte eine
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