Wintermond (German Edition)
äußern. Doch dieser stand lediglich da und schwieg.
„Mit denen sollte man sich echt nicht anlegen“, erklärte Ben. „Ich kann verstehen, dass Alex Panik geschoben hat. Du wolltest ihm kein Geld geben und die genauen Gründe konnte er dir nicht sagen, weil er Angst hatte, du würdest die Polizei einschalten und er den Typen dann hilflos ausgeliefert sein. Deshalb hat er versucht, irgendwie anders an Geld zu kommen. Er ist bei einer von Diegos Nachbarn eingebrochen ... zusammen mit diesem Diego. Als sie dann von einem weiteren Nachbarn erwischt worden sind, hat Diego den Kerl zusammen- vermutlich sogar totgeschlagen. Alex hatte damit nichts zu tun und die Sache aus Angst für sich behalten. Aber jetzt will er der Polizei alles sagen ... einfach so ... und ich hab’ echt Schiss, dass er der Polizei zu viel erzählt und die Typen vom Pokern ihn dann richtig fertig machen ... oder dass er in den Knast kommt, weil er Diego vielleicht aus der ganzen Sache raushalten will“, er pausierte, holte tief Luft und blickte endlich zu Jo auf. „Ich kann doch nicht einfach zulassen, dass er so ins Verderben rennt! Ich muss irgendetwas tun und er sollte sich lieber einen Anwalt holen, statt zur Polizei zu gehen!“
Er klang verzweifelt und spürte, dass er kurz vorm Losheulen war. Er hatte Jo tatsächlich die Wahrheit erzählt und ihm gleichzeitig sein ganzes Herz ausgeschüttet.
Dieser stand noch immer vor der Fensterbank und blickte ausdruckslos in seine Richtung. Er sah weder wütend noch enttäuscht aus. Es schien, als ob auch er vollkommen überfordert mit der Situation und den schlimmen Neuigkeiten war. Seine Augen spiegelten eine vollkommene Leere wider. Es kam Ben vor, als ob Jo in genau diesem Moment das erste Mal verinnerlichte, dass Alex nicht irgendjemand, sondern sein eigener Sohn war, den er in den letzten Monaten vernachlässigt und ziemlich herablassend behandelt hatte. Jo schien so erschrocken zu sein, dass ihm die Worte fehlten.
Ben blickte hilflos zu ihm auf und biss sich auf die Unterlippe.
„Mann ...“, begann er aufgelöst, seine Stimme zitterte. „Vielleicht kannst du das nicht verstehen, aber ich liebe Alex“, er stockte und versuchte, den entstandenen Kloß in seinem Hals herunterzuschlucken. „Ich liebe ihn, weil er etwas ganz Besonderes ist und in seinem Leben schon ziemlich viel Stärke bewiesen hat“, erneut pausierte er, bevor er aufgebracht fortfuhr, „Jo, er ist dein Sohn! Bitte tu irgendwas!“
Doch Jo stand weiterhin regungslos da. Mittlerweile hatte er seinen Blick gesenkt und wirkte völlig abwesend. Ben erkannte den sonst so strengen und wortgewandten Menschen kaum wieder. Er erwartete eine Antwort oder eine Reaktion - einfach irgendeine Erwiderung.
„Ich will Alex nicht verlieren ...“, nuschelte Ben noch, bevor er schließlich nicht mehr länger an sich halten konnte und seine Tränen der Verzweiflung zuließ. Seine Augen wurden glasig, seine Sicht verschwommen. Er konnte spüren, wie sich vereinzelte Tränen ihren Weg über sein Gesicht suchten.
Seine emotionale Reaktion war das Ergebnis der letzten Wochen und all der Lasten, die er ständig mit sich herumgetragen hatte. Doch jetzt war der Zeitpunkt gekommen, an dem er jegliche Selbstdisziplin verlor und sich seinen Gefühlen offen hingab. Er atmete unregelmäßig und musste unter den Tränen stark schlucken. Er glaubte schon fast, dass Jo nichts mehr erwidern würde. Doch plötzlich gab dieser tatsächlich ein paar undeutliche Worte von sich. Ben musste genau hinhören und die Luft einen Moment lang anhalten, um ihn überhaupt verstehen zu können.
„Ich habe alles falsch gemacht“, sagte Jo leise. Er sprach so ruhig, dass es schon fast apathisch klang.
Ben wischte sich ein paar Tränen aus dem Gesicht und versuchte, sich wieder zu beruhigen.
„Erst meine Frau ... jetzt mein Sohn ...“, fuhr Jo fort.
Ben verstand nicht ganz. Er schluckte noch einmal, bevor er sich leise räusperte, um nicht allzu heiser zu klingen.
„Wie meinst du das?“, fragte er.
„Ich bin zu jemandem geworden, der ich nie sein wollte“, erwiderte Jo, wandte sich um und begann aus dem Fenster zu blicken. „Alex ...“, er machte eine undeutliche Geste, „ich hatte ja keine Ahnung ...“
Ben befeuchtete seine Lippen mit der Zunge. Er schmeckte die salzige Tränenflüssigkeit und war froh, sich wieder einigermaßen gefangen zu haben.
„Ich will das wieder gutmachen“, sprach Jo weiter und klang nun schon so neutral, dass man ihn
Weitere Kostenlose Bücher