Wintermond (German Edition)
Etwas anderes blieb ihm in jenem Moment allerdings nicht übrig. Früher oder später würde Jo die Wahrheit sowieso erfahren und jetzt kam es auf jede weitere Minute an.
Jo reagierte einen ganzen Augenblick lang nicht. Er schien nachzudenken.
Ben spähte durch den Türspalt und konnte sehen, wie Jos Miene sich nahezu sekündlich verzog. Erst nach einer ganzen Weile öffnete er die Tür schließlich wieder vollständig und winkte Ben in die Villa.
„Aber halt dich kurz!“, sagte er dazu. „Ich muss arbeiten.“
Ben nickte kaum merklich. Er stülpte die Schuhe von seinen Füßen und folgte Jo wortlos in das Arbeitszimmer. Der Raum war ihm mittlerweile sehr vertraut geworden. Er ließ seinen Blick kurz durch das Zimmer schweifen, tat dies jedoch mehr, um etwas Zeit zu gewinnen. Noch immer wusste er nicht, wie er Jo nahe bringen sollte, was Alex ihm in dem Brief anvertraut hatte.
„Also?“, fragte Jo und forderte ihn damit ungeduldig zum Sprechen auf.
„War Alex vorhin hier?“, fragte Ben daraufhin ein weiteres Mal.
Er konnte nicht anders, denn dies war vorerst die wichtigste Information, die er benötigte.
„Ja, er hat das Geld abgeholt“, erwiderte Jo.
Ben nickte ungeduldig, während etliche von Gedanken durch seinen Kopf zogen und sich das Pochen an seinen Schläfen dadurch heftig verstärkte.
„Hat er gesagt, wo er hin will?“, fragte Ben. „Habt ihr noch geredet? Hat er überhaupt noch irgendetwas gesagt?“
Die Fragen sprudelten schneller aus ihm heraus, als er zuvor über sie nachgedacht hatte.
„Was ist los, Ben?“, fragte Jo daraufhin und zog seine Augenbrauen skeptisch zusammen.
Er schritt zu einer der Fensterbänke und lehnte sich mit dem Rücken gegen sie. Zusätzlich verschränkte er seine Arme vor der Brust und wirkte dadurch strenger, als Ben ihn bislang jemals erlebt hatte.
Ben holte tief Luft und wollte antworten, doch das Gedankenchaos in seinem Kopf verschlug ihm die Sprache. Er brauchte einen sinnvollen Anfang, aber gleichzeitig gab es zu viele Informationen, die alle so eng miteinander verbunden waren, dass er es kaum schaffte, sie in eine logische Reihenfolge zu sortieren.
„Ben!“, ermahnte Jo ihn und war dabei etwas lauter geworden.
Bens Schläfe brannten vor Schmerz und sein Magen zog sich kräftig zusammen. Gleichzeitig wurde ihm so schwindelig, dass er ein paar Schritte rückwärts taumelte und sich schließlich auf die Couch sinken ließ. Dort fuhr er sich mit seiner schwitzigen Hand durchs Haar und versuchte sein Unwohlsein zu unterdrücken.
„Alex will zur Polizei“, sagte er dann und klang sicherer, als er geglaubt hatte.
Er blickte nicht zu Jo auf, starrte stattdessen zwischen seinen Beinen hindurch gen Boden.
„Geht’s bitte noch etwas genauer?“, fragte Jo. Man konnte ihm anmerken, dass auch er etwas nervös wurde.
„Er ... Er ...“, stammelte Ben und machte dabei hilflose Gesten mit seinen Händen. „Es war eigentlich alles gut. Aber heute Morgen war er auf einmal wie ausgewechselt. Ich hab’ ihn kaum wiedererkannt. Er wollte unbedingt los und hat mir bloß ’nen Brief hinterlassen.“
„Was für einen Brief?“, warf Jo sofort ungeduldig ein.
„Einen langen Brief, in dem steht, was er fühlt und denkt und getan hat und so weiter“, erklärte Ben.
Ihm war bewusst, dass Jo nichts von den illegalen Pokerspielen wusste. Deshalb war der Architekt in einer wesentlich wissensloseren Position als er selbst. Er würde nicht nur die Sache mit dem Studenten verarbeiten müssen, sondern gleich alles auf einmal. Das würde mit Sicherheit nicht leicht sein.
„Das Geld...“, fuhr Ben fort, „... das brauchte er für irgendwelche Typen, bei denen er beim Pokern Schulden gemacht hat. Und weil er das lange Zeit nicht aufbringen konnte, haben die ihn beobachtet und mehrfach bedroht. Die Typen waren es auch, die Sam umgebracht haben. Auch das war eine Drohung.“
Noch immer wagte er es nicht, zu Jo aufzusehen. Vermutlich würde er dessen entsetztem Blick ohnehin nicht standhalten können. Also tat er das einzige, was ihm in dieser Situation richtig erschien und das war, einfach konsequent weiterzuerzählen.
„Nach Sams Tod ist Alex total ausgerastet und zum Quartier dieser Typen gefahren. Ich bin hinterher, weil ich ihn davon abhalten wollte. Ich bin gerade noch rechtzeitig gekommen. Einer hatte bereits auf ihn geschossen, allerdings verfehlt ... vermutlich absichtlich.“
Er machte eine Pause, um Jo die Möglichkeit zu geben, Fragen zu
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