Wintermond (German Edition)
Augen.
Ben starrte irritiert zurück. Er konnte nicht glauben, was er soeben gehört hatte. Er hatte mit allem gerechnet, jedoch nicht damit, dass Jo sich bei ihm bedanken würde.
„Wofür?“, fragte Ben und blickte skeptisch zurück.
„Dafür, dass du Alex ein guter Freund geworden bist“, antwortete Jo.
Ben öffnete seinen Mund, um etwas zu erwidern, schloss ihn dann wieder und öffnete ihn schließlich ein weiteres Mal.
„Ich bin nicht nur ein Freund“, gab er betont zurück. „Ich bin sein Freund.“
Jo nickte nachdenklich. Gleichzeitig sah er recht ernst aus.
„Du hast Recht“, er pausierte einen Moment. „Ich will, dass Alex glücklich ist und sein Leben wieder in den Griff bekommt. Und wenn du derjenige bist, der ihm dabei helfen kann, dann werde ich das akzeptieren müssen.“
Ben starrte Jo entgeistert an. Er traute seinen Ohren nicht.
„Und jetzt mach, dass du wegkommst!“, forderte Jo ihn nach einer kurzen Minute des Schweigens auf. „Ich warte auf deinen Anruf.“
Mit diesen letzten Worten wandte Alex’ Vater sich wieder von ihm ab und schritt zurück zu der Fensterbank, gegen die er sich vorhin die ganze Zeit gelehnt hatte.
Ben blickte ihm noch eine Weile nach, bevor er sich erneut mit der Zunge über die Lippen fuhr und das Arbeitszimmer schließlich endgültig verließ.
In schnellen Schritten eilte er den marmorierten Flur entlang. An der Haustür angekommen presste er seine Füße hektisch in seine Schuhe und riss gleich darauf die Haustür auf. Er stürmte nach draußen, öffnete sein Auto und kletterte auf den Fahrersitz. Dann holte er einen kleinen Stadtplan von Hamburg aus seinem Handschuhfach und faltete ihn auf, um nach der Straße Pinnasberg zu suchen. Er fuhr die Elbchaussee mit seinem Finger entlang und las die vielen Straßennamen sehr aufmerksam. In jenem Moment verfluchte er sich dafür, sich noch kein Navigationsgerät besorgt zu haben. Doch diese Anschaffung hatte er bislang immer aufgeschoben. Deshalb blieb ihm nun nichts anderes übrig als weiterzusuchen.
Als er die Straße nicht in der näheren Umgebung fand, schlug er schließlich doch das Straßenverzeichnis auf und suchte dort nach dem Pinnasberg. Nachdem er ihn gefunden hatte, blätterte er wieder zurück und fand die Straße endlich. Er musste sie zuvor einfach übersehen haben, denn sie war nicht weit von der Elbchaussee entfernt. Das beruhigte ihn, da die Schmerzen in seinem Kopf derweilen so unerträglich geworden waren, dass er eine lange Fahrt nur gequält überstanden hätte.
Er legte den Stadtplan aufgeklappt auf den Beifahrersitz und steckte den Schlüssel in die Zündung. Dann schaltete er den Rückwärtsgang ein und fuhr aus der Einfahrt. Er rollte auf die Elbchaussee, schlug dazu kräftig links ein und fuhr schließlich los.
Mittlerweile hatte sich wieder etwas mehr Optimismus in ihm ausgebreitet. Es erschien ihm gar nicht als allzu abwegig, Alex am Pinnasberg anzutreffen, denn wenn dieser sich mit Diego traf, würden die beiden sicher noch eine Zeit lang miteinander reden, bevor sie sich irgendwann auf den Weg machen würden, das Geld abzuliefern.
Dennoch wunderte es Ben, dass Diego plötzlich wieder da war. Im Brief von Alex hatte es noch geheißen, dass dieser untergetaucht wäre. Ben wusste nicht, ob das Auftauchen des ehemaligen Kumpels von Alex nur purer Zufall war oder vielleicht mehr dahinter steckte. Jedenfalls kam ihm die Sache recht eigenartig vor.
Jetzt bekam er doch wieder ein ungutes Gefühl und glaubte zu spüren, dass etwas an der ganzen Sache faul sein könnte. Es war nur ein Gefühl, ganz instinktiv, auf das er in seiner Situation allerdings nicht allzu viel setzen konnte. Deshalb verdrängte er diesen voreiligen Gedanken erst einmal und konzentrierte sich wieder vermehrt auf die Straße.
Er würde um Alex kämpfen. So viel war klar. Das hatte er bereits von dem Zeitpunkt an getan, in dem er das erste Mal bemerkt hatte, dass er etwas für den Blonden empfand. Er bereute es nicht.
Wenn er Alex tatsächlich finden würde, würde er ihn vom Gang zur Polizei abbringen und dann würden sie gemeinsam - vielleicht sogar mit Jos Hilfe - nach einer wesentlich besseren Lösung suchen. Einer Lösung, die nicht so überstürzt und gefährlich war.
Die wenigen Stunden, die er am Vortag mit Alex erlebt hatte, sollten nicht die letzten bleiben.
Nach so viel Hin und Her hatten sie endlich zueinander gefunden und genau das durfte nun nicht durch irgendwelche voreiligen Entscheidungen
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