Wintermond
Gewissen. David liegt mir ständig damit in den Ohren, dass ich mir ein Taxi nehmen soll, wenn er es nicht schafft, mich von der Galerie abzuholen.« Meta zog die Nase kraus. »Er macht sich da richtig Sorgen, dabei ist unsere Wohngegend doch eine der sichersten in der Stadt. Deshalb habe ich mich auch schon ein- oder zweimal nicht daran gehalten. Frag mich nicht wie, aber er bekommt es jedes Mal raus und wird kreidebleich.« Dass David auf ihre Spaziergänge so bestürzt reagiert hatte, hatte Meta verwirrt, aber dann hatte sie es auf Davids vormals zerschlagenes Gesicht und blutiges T-Shirt zurückgeführt.
»Und ich dachte, das Streunen hätte Mama dir samt allen anderen Eigenarten erfolgreich abgewöhnt.«
Meta zuckte zusammen. »Streunen?«
»Sag bloß, du hast diese Unart deiner Kindertage, sorglos durch die Straßen zu streifen, schon vergessen. Ich kann mich jedenfalls noch bestens an die hysterischen Anfälle unserer Mutter erinnern, wenn sie dich wieder einmal bei so einem Ausflug ertappt hat. ›Aber Mami, es ist so schön, durch das gefallene Laub zu laufen‹«, äffte Emma die kindliche Meta nach und zwirbelte dabei eine ihrer Haarsträhnen. »Auf so eine schwachsinnige Idee bin ja nicht einmal ich gekommen. Umherstromern - macht doch außer dir kein Mensch in dieser Stadt. Und das aus gutem Grund.«
»Und der wäre?«, fragte Meta, während sie ihre vollkommen aufgelöste Mutter vor sich sah, die von oben herab auf sie einredete. Allerdings begriff sie auch jetzt noch nicht - wie schon als Kind -, woher die ganze Aufregung rührte.
Offensichtlich fiel die Antwort nicht besonders einfach aus, denn Emma kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe herum. »Was weiß ich, es ist eben so. Weil man dabei zum Beispiel auf Wölfe trifft, wie du eben selbst erzählt hast. Oder habe ich dich etwa falsch verstanden?« Meta nickte nachdenklich, während Emma unter ihrem Blick auf ihrem Hocker umherrutschte. »Nun erzähl schon«,forderte ihre Schwester sie schließlich auf.
»Es war also schon dunkel, als ich die Galerie verließ. Der Tag war anstrengend gewesen, und es fühlte sich gut an, sich einfach nur treiben zu lassen. Die grellbeleuchteten Hauptstraßen, auf denen der Feierabendverkehr tobte, habe ich gemieden. Ich wollte nur das Klacken meiner Absätze auf dem Pflaster hören und mich vom Wind vorantreiben lassen. Als ich durch eine schmale Verbindungsgasse ging, bemerkte ich auf einmal etwas.« Meta hielt inne, als sie versuchte, sich die Erinnerung wieder lebhaft vor Augen zu führen. Sie hatte niemand anderem von dieser Begegnung erzählt, weil sie ihr so unwirklich erschienen war. Manchmal, wenn sie an das Erlebnis dachte, kam es ihr sogar so vor, als wäre es nur ein Traum gewesen. Auch jetzt verspürte sie mit einem Mal den Wunsch, die Geschichte für sich zu behalten, doch sie fuhr fort.
»Ich meine, ich habe dieses Tier nicht wirklich gesehen. Es war dunkel in der Gasse, und es drängte sich in die Schatten. Nur einmal ist es kurz an meinen Beinen entlanggestreift, und das fühlte sich an wie … Ich kann es nicht beschreiben. Es war so unwirklich, wie in einem Traum.Als würde alles seine feste Kontur verlieren und zu Schemen verschmelzen, eine dämmerige Sphäre, in der alles möglich ist.«
Emmas Mund war zu einem Strich geworden, so sehr konzentrierte sie sich auf die Erzählung. »Und dann?«
Es fiel Meta seltsam schwer, sich auf das danach Folgende zu konzentrieren. »Ich glaube, er lief noch ein Stück neben mir her, wie ein Begleiter.« Dabei lag ihr das Wort Beschützer auf der Zunge, nur war es ihr unmöglich, es vor ihrer Schwester auszusprechen. »Und so plötzlich, wie er aufgetaucht war, verschwand er auch wieder. Glaube ich zumindest.«
»Ein Wolf?«, fragte Emma, und zu Metas Erleichterung schwang Verwunderung, aber kein Zweifel in ihrer Stimme mit. Der würde sich vielleicht in ein oder zwei Stunden einstellen, aber dann würden sie beide darüber lachen können.
»Ja, ein Wolf«, sagte Meta nachdenklich und schaute zum Fenster hinaus.
Kapitel 25
Wolfsstunde
Obwohl der Wochenmarkt in Metas Stadtviertel eine echte Attraktion war und selbst in der kalten Jahreszeit Besucher von weither anzog, hatte sie ihn vor kurzem das erste Mal gemeinsam mit David besucht.
Der Platz, auf dem das bunte Treiben stattfand, war für gewöhnlich eine öde Betonfläche mit einigen eingezäunten Bäumen, die keinen sehr überlebenswilligen Eindruck machten. Doch für ein paar Stunden am
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