Wintermond
gut Glück an einer großen Kreuzung auszusteigen. Eine Zeit lang blieb sie mitten auf dem Gehweg stehen, die Hände in den Taschen, und sah sich um.
In ihrem Rücken befand sich einer dieser anonymen 24-Stunden-Supermärkte, wo Nylonstrümpfe neben Kinderspielsachen und Dosengemüse angeboten wurden. Immer wieder kam jemand mit vollen Tüten durch die auf- und zugleitenden Schiebetüren, doch für einen Samstagvormittag war es ruhig. Die Ampelschaltung verrichtete tapfer ihren Dienst, obwohl kaum Autos unterwegs waren. Niemand schlenderte den Gehweg entlang, als hätte er alle Zeit der Welt, genauso wenig wie es spielende Kinder oder Jugendliche gab, die beisammenhockten und sich unterhielten.
Warum sie all das vermisste, wusste Meta selbst nicht. Denn in den Ecken der Stadt, in denen sie heimisch war, herrschte auch kein belebender Trubel. Die Leute gingen stets ihren Aufgaben nach, und wer sich keinen Wagen leisten konnte, sah für gewöhnlich zu, dass er rasch eine der vielen U-Bahn-Stationen erreichte, denn in dieser Stadt ging niemand gern zu Fuß.
Mit einem Mal beschlich Meta die wahnwitzige Vorstellung, dass den Menschen das Straßengeflecht wie die freie Wildbahn erscheinen musste. Dass sie die Sicherheit von festen Wänden oder ihrer Blechkisten bevorzugten. Ja, dass sie sich auf der offenen Straße vielleicht sogar wie leicht zu schlagende Opfer vorkamen. Es war dieses seltsame Gefühl, das einen überkam, wenn man die menschenleere Straße entlangging. Als würde etwas in den Türeingängen und Hinterhöfen lauern und seine Möglichkeiten abwägen.Alte Instinkte, sagte Meta sich. Da leben wir inmitten einer Großstadt und glauben uns immer noch in der Wildnis. Dabei konnte sie nicht einmal sagen, ob dieses übertriebene Sicherheitsbedürfnis auch in anderen Städten vorherrschte. Sie selbst empfand es ja nur, weil sie von ihrer Umwelt stets darauf aufmerksam gemacht wurde.
Meta knotete den Gürtel ihres Trenchcoats enger, damit der Wind ihr nicht länger eine Gänsehaut zaubern konnte. Es hatte ihr noch nie etwas ausgemacht, im schwächer werdenden Licht durch Gassen zu gehen, in denen Schatten hausten. Trotzdem hatte sie sich irgendwann entschieden, sich den Ängsten der anderen anzupassen, ein Taxi zu rufen, wenn ihr der Sinn eigentlich mehr nach einem Streifzug stand. In den letzten Jahren hatte sie über diesen Widerspruch gar nicht mehr nachgedacht und vergessen, dass es einmal anders gewesen war.
Mit einem leicht verrutschten Lächeln begann Meta ihren Spaziergang durch die Straßen, die ihr alle unterschiedslos vorkamen. Ewig gleiche Mietshäuser, die auf die Tatsache, Individuen zu beherbergen, keinerlei Rücksicht nahmen. Selbst wenn sie an Davids Haustür vorbeigehen sollte, würde sie es wahrscheinlich nicht bemerken. Zweifellos war es absurd, was sie hier trieb. Bestenfalls würde sich dieser kleine Ausflug als Heilmittel für ihr Zwangsverhalten erweisen. Am Montag wollte sie ihren ganzen Mut zusammennehmen und Rahel davon erzählen. Die würde sie zwar verstehen, ihr aber zugleich bestätigen, dass David verloren war, wenn er nicht von selbst wieder auftauchte.Vielleicht sagte sie ihr sogar, dass es an der Zeit war, dieses Hirngespinst nach all den Wochen des Wartens endlich aufzugeben.
Der Wind hatte deutlich aufgefrischt und trieb die regenschweren Wolken nun mit Eile über den Himmel. Nur gelegentlich gelang es der Sonne noch, einige Strahlen durch die Wolkentürme zu schicken. Im Großen und Ganzen sah es danach aus, als ginge bald ein Platzregen nieder.
Metas nackte Beine waren mittlerweile mit Gänsehaut überzogen, und sie raffte den Kragen des Trenchcoats zusammen. Der Gurt ihrer Handtasche rutschte von der Schulter, und ihr Gewicht baumelte schwer in der Armbeuge. Einen Regen würden ihre Ballerinas auf keinen Fall überstehen. Auf der gegenüberliegenden Straße tauchte ein Taxi auf, aber sie ließ es vorbeifahren, ohne dass sie den Arm hob. Leise verfluchte sie sich selbst. Dieses Drama muss jetzt aufhören, sofort!, schwor sie sich. Sie hatte sich bereits zu mehr hinreißen lassen, als sie vor sich selbst vertreten konnte. Dann würde sie eben die U-Bahn nehmen und dabei keinen Blick zurückwerfen.
Entschlossen drehte sie sich um und lief gegen eine Lederjacke. Bevor Meta die Augen anheben konnte, verriet der Duft schon, wer dort gerade vor ihr aufgetaucht war: David. Dieser Geruch, bei dem Meta schlagartig ihre anerzogene Zurückhaltung vergaß, ließ sich kaum
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