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Wintermord

Wintermord

Titel: Wintermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Camilla Ceder
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betonte. »Weißt du, auf der anderen Seite der Erde gibt es einen sehr religiösen Stamm, der in völliger Isolierung lebt. Dort müssen sich die halbwüchsigen Jungen einem speziellen Ritual unterziehen, um Männer zu werden: Sie schneiden sich Beine und Arme auf und verreiben das Blut auf dem ganzen Körper. Das hat mit dem Bekenntnis ihrer Sünden zu tun, ungefähr wie bei den christlichen Märtyrern. Dann muss sich der Junge in eine Höhle legen, die von den älteren Frauen vorbereitet worden ist. Sie verbrennen ein bestimmtes Kraut darin, es ist so was Ähnliches wie unser Wacholder, mit einem ganz starken, würzigen Geruch. Dort muss der Junge drei Tage und drei Nächte auf einem Lager aus Blättern liegen bleiben. Manchmal kommt es vor, dass einer zu tief geschnitten hat und verblutet, das bedeutet dann, dass die Götter seinen Mut gesehen und ihn zu sich gerufen haben, um ihn gleich bei sich zu haben. Doch meistens überlebt der Junge und kehrt nach diesen drei Tagen mit den vernarbten Wunden, die sich wie dunkle Schlangen über seinen Körper ziehen, ins Dorf zurück. Je dicker und knotiger das Narbengewebe ist, umso höher der Status des Mannes. Sie sind schließlich Beweis seiner Tapferkeit und zeigen, dass er etwas Wichtiges gelernt hat: Er hat seine Schuld erkannt und auf sich genommen und ist nun bereit, sie für den Rest seines Lebens zu sühnen.«
    Als sie sich mit ihrem warmen Körper immer weiter über ihn beugte, schliefen seine Beine ein. Auf der Stirn und unter den Achseln brach ihm der Schweiß aus.
    Ihr Atem stieg ihm in die Nase, ein süßer, beißender Geruch. Gefangen zwischen seinen widerstreitenden Impulsen, wollte er sich ihr einerseits entziehen, ihr andererseits entgegenkommen. »Diesen Stamm gibt es bestimmt gar nicht«, sagte er mit dünner Stimme. Ihre feuchte Unterlippe glänzte, als sie lächelte.
    Er hatte keine Lust, sich geschlagen zu geben, und hätte ihr gern gesagt, was sein Sozialkundelehrer mal erklärt hatte, dass Schuldgefühle und Märtyrertum ausschließlich in den westlichen Religionen vorkommen – doch er bekam kaum Luft, weil sie so schwer auf seinem Körper lag, und seine Stimme wollte ihm nicht gehorchen. Ihr Blick jagte ihm solche Angst ein, dass er sich nicht mehr rührte. Als er schon glaubte, vor lauter Sauerstoffmangel ohnmächtig zu werden, lehnte sie sich langsam wieder zurück, nicht ohne dabei die Hände über die Decke wandern zu lassen. Dann schloss sich ihr feuchter Mund über seine schmalen, trockenen Lippen und sog seine Unterlippe ein. Als sie zubiss, fuhr ihm der Schmerz wie ein Blitz durchs Rückgrat. Er explodierte konvulsionsartig, wobei er die Knie anzog und die Arme schützend um seinen Körper legte.
    Caroline trat einen Schritt zurück. Ihre Miene drückte Mitleid und Verachtung aus, aber auch eine Zärtlichkeit, die er mit seinen Tränen in ihr geweckt hatte.
    Behutsam strich sie ihm mit den Fingerspitzen über die Wange. »Wenn du nach Hause kommst, darfst du wieder in dein Zimmer ziehen.«

51
    2007
    Der Hund hüpfte mit fiepsigem Gebell um ihn herum, das nicht recht zu einem Neufundländer passen wollte. Nachdem Sven ein paarmal über ihn gestolpert war, versetzte er ihm einen wohlgezielten Tritt, der das Tier von da an ein paar Meter Abstand zu seinem Herrn einhalten ließ. Sven verdrängte eine Regung seines Gewissens. Er hatte jetzt weiß Gott andere Dinge im Kopf.
    Normalerweise mochten die beiden das gemächliche Ritual, mit dem die Nerze gefüttert wurden. Albert war schon sein dritter Neufundländer, denn diese Tiere wurden nicht besonders alt, das war eben der Nachteil: Irgendwann machten die Hüftgelenke nicht mehr mit, und dann lebten sie nur noch in Schmerz und Würdelosigkeit dahin. Schon zweimal hatte er mit Köter und Flinte hinters Haus gehen müssen. Das war nicht schön, aber immer noch humaner, als den Hund leiden zu lassen.
    Durch die Fenster sah er über den Baumwipfeln die Dämmerung heraufziehen.
    Vor dem Wohnhaus erschienen zwei Gestalten in zu großen roten Daunenjacken mit rot-blauen Schulranzen. Sie winkten jemand auf der Straße zu. Erikssons nicht mehr ganz neuer Saab hielt, und im nächsten Moment waren sie auch schon verschwunden.
    Jeden dritten Tag holte Sven am Morgen Erikssons und Kajsas Kinder ab, um die ganze Bagage vor der Schule abzuladen, und um drei Uhr fuhr er sie wieder nach Hause. Fahrgemeinschaft nannte sich das. Wenn er den Schulbus spielen musste, war er selten gut gelaunt. Meistens knurrte

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