Wintermord
Woher hättest du auch wissen sollen, dass der Mann gar nicht Thomas Edell war? Woher hättest du auch wissen sollen, dass dieser Mann Lars Waltz war, Lise-Lotts zweiter Mann, der mit der ganzen Sache nichts zu tun hatte?«
Der Wachmann kam Tell zu Hilfe, bevor der Junge seine Hände um den Hals des Kommissars schließen konnte. Sebastian Granith hatte sich über den Tisch geworfen, aber die Attacke geschah ohne rechte Überzeugung. Er wollte einfach nur Tells Redefluss stoppen. »Geben Sie mir fünf Minuten.«
Eine halbe Stunde zuvor hatte Tell noch erwogen, das Verhör zu unterbrechen und am nächsten Tag fortzusetzen. Doch nun war die Nacht schon fast vorüber, und Graniths Widerstand bröckelte.
»Okay, fünf Minuten«, sagte er schließlich.
Zehn Jahre lang hatte er sich Scheiße reingezogen. Zehn lange Jahre hatte er gebraucht, bis er endlich begriff, dass er den wirklich Schuldigen die Schuld zuweisen musste. Sobald er zu dieser Erkenntnis gelangt war, hatte er das Gefühl, ein staubiger Schleier würde gelüftet, sodass er endlich wieder klar sehen konnte. Manchmal kam es ihm fast vor, als würde er schweben.
»Ich hab’s getan. Ich hab sie getötet.«
Seine Fünf-Minuten-Frist verbrachte Granith im Liegen auf der Pritsche, die Augen unter seinem Unterarm versteckt. Dann hatte er wieder diesen völlig gleichgültigen, verstörend leeren Blick.
Doch hinter dieser Oberfläche starb Olof Pilgren immer und immer wieder seinen hässlichen Tod. Ein ums andere Mal zerplatzten sein Schädel und seine Eingeweide zwischen der Garagenwand und der Stoßstange des Jeeps. Das war die einzige Filmsequenz aus Sebastian Graniths privatem Repertoire, die wirklich etwas taugte. Alles ließ sich viel leichter aushalten, wenn er sich fest auf diese Bilder konzentrierte, die sich jederzeit abrufen ließen, sobald er die Augen schloss.
»Das Einzige, was ich bereue, ist, dass ich den dritten nicht mehr erwischt habe.«
»Du meinst Sven Molin.«
Tell lehnte sich zurück und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Sobald er jemand erreichen konnte, wollte er sich erkundigen, was die Fahndung nach Sven Molin ergeben hatte. Wahrscheinlich hockte er zu Tode verängstigt in einem verriegelten Ferienhäuschen. Oder er wusste gar nicht, dass er in Lebensgefahr geschwebt hatte. In diesem Fall würde er sicher bald nach Hause kommen. Der Dorfpolizist, der das Haus bewachte, hatte die ehrenvolle Aufgabe, Molin mitzuteilen, dass die Gefahr vorüber war.
Auf so ein schnelles Geständnis hatte Tell nicht zu hoffen gewagt. Der Junge war ein Nervenwrack, wenngleich er ruhiger wirkte, als er jetzt zu erzählen begann, wie er die beiden Männer getötet hatte.
Schien er nicht sogar aufzuleben, als er seine Verbrechen schildern durfte? Anscheinend fühlte er sich tatsächlich wie ein Rächer der Gerechten. Obwohl der Junge eindeutig gestört war, steckte in seiner verdrehten Logik doch etwas Stimmiges: Auge um Auge, Zahn um Zahn.
In seltenen Fällen konnte es geschehen, dass ein Mörder eine gewisse Empathie in Tell weckte. In diesem Fall schüttelte er das Gefühl ab, stand auf und schob den Stuhl ordentlich an den Tisch. Es dämmerte bereits, und er wollte nur noch nach Hause. Ein Glas Wein trinken und hoffen, dass ihm das zu ruhigem Schlaf verhalf. Dem ersten seit langer Zeit.
57
Als das Klingeln des Telefons sie weckte, kam es ihr vor, als hätte sie nur ein paar Minuten geschlafen. Die ganze Nacht war sie zwischen Schlafzimmer und Küche hin und her gelaufen, hatte dünnen Tee getrunken und Musik gehört. Gegen Morgen kochte sie sich einen starken Espresso, kuschelte sich auf dem Sofa zusammen und trank ihn in kleinen Schlucken.
Es hat sowieso keinen Zweck mehr, es zu versuchen, dachte sie, doch anscheinend hatte der Schlaf nur auf der Lauer gelegen und schlich sich an, als sie schon gar nicht mehr damit rechnete.
Als sie die Hand ausstreckte, um nach dem Telefon zu greifen, warf sie die Tasse um, die noch auf dem Wohnzimmertisch stand. »Verdammter Mist – ja, hallo?«
»Hallo?«
Hannas unverwechselbar rauchige Stimme. »Was ist denn mit dir los? Bist du verkatert?«
Seja stand so rasch auf, dass ihr schwarz vor Augen wurde, und sie setzte sich doch lieber wieder hin. »Hallo, ja, das heißt ... nein. Ich hab keinen Kater. Aber irgendwie fühlt es sich so ähnlich an. Ich hab die ganze Nacht kaum ein Auge zugemacht.«
»Verstehe. Ist ja übel.«
Es wurde kurz still, und Seja erkannte das Geräusch eines Feuerzeugs, als
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