Wintermord
einen Nachtbus oder ein Taxi oder weiß Gott was nehmen können. Was sollte er denn noch tun?
Es war keine gute Idee, wenn ein Mädchen mitten in der Nacht allein im Wald herumlief. Da konnte doch alles Mögliche passieren. Und niemand würde etwas sehen oder hören.
Der Wolf ließ die Tür los und ging auf das Mädchen zu, wie man auf ein in die Enge getriebenes Tier zugeht. »Na komm schon, fahr mit. Wir haben was zu trinken dabei und noch was anderes, was dir bestimmt gefällt.«
Dann wurde seine Stimme leiser und nahm einen bedrohlich herausfordernden Ton an. Auf einmal wirkte er auch gar nicht mehr so betrunken.
Målle war nahe dran, dem Wolf zu sagen, er solle damit aufhören, aber er konnte nicht. Sie hatte ihn zu sehr gekränkt, und es gefiel ihm, wie verängstigt die Braut mit der großen Klappe auf einmal aussah. Jetzt spuckte sie jedenfalls keine großen Töne mehr. Sah ganz so aus, als hätte sie beschlossen, lieber den Mund zu halten, und damit war sie auch gut beraten. Gerade wollte sie ihr Scheißfahrrad nehmen und davonlaufen, aber im gleichen Augenblick war der Wolf auch schon neben ihr und packte sie am Arm. Da fing sie an zu schreien: »Du widerlicher Scheißkerl, lass mich los.« Sie schrie auch nach Hilfe. Sollte sie doch. Hier würde sie keiner hören.
Im gleichen Moment wurde ihm klar, dass sie keine Chance hatte. Sie konnten mit ihr anstellen, was sie wollten, und nichts, was sie sagte oder tat, konnte sie aufhalten. Der Gedanke machte ihn geil, und auch der Anblick, wie der Wolf das schreiende, sich wehrende Mädchen zum Auto schob, mit einem Ausdruck auf seinem bärtigen Gesicht, den Målle noch nie an ihm gesehen hatte.
Der Wolf hielt ihr mit einer Hand die Arme auf dem Rücken fest, während er mit der anderen am Reißverschluss ihrer Hose herumfummelte. Pilen hielt ihm die Tür auf, sodass der Wolf das Mädchen problemlos bäuchlings auf den Rücksitz werfen konnte. Dann blieb er wie versteinert stehen und schien keine Ahnung zu haben, was man als Nächstes von ihm erwartete.
My verlässt ihren Körper und betrachtet die Szene von oben. Es ist eine Erleichterung, den Widerstand aufzugeben. Die Details werden schärfer: Auf dem Sitz klebt ein Kaugummi. Die Reste eines Burger-Menüs und unzählige leere Bierdosen liegen auf dem Boden. Am Rückspiegel hängt eine Homer Simpson-Puppe, wie sie aus dem Augenwinkel erkennen kann. Die Fellmütze, die sich gegen ihre Wange presst, verströmt einen Geruch nach Schweiß und Kuhdung.
»Na komm schon«, fordert der Große seinen Freund auf.
Der sieht zwar verängstigt aus, schiebt ihr aber die Jacke mit einem Gesichtsausdruck nach oben, der in jedem anderen Zusammenhang komisch gewesen wäre: Er wirkt angeekelt, als müsse er eine Ratte sezieren. Ja, und aus ihrer Vogelperspektive erkennt My, dass er wirklich Angst hat. Ihr kurzer brauner Rock kommt unter der schwarzen Hose zum Vorschein, und er verzieht das Gesicht und schnauft heftig, als hätte er Asthma.
Schließlich hat der Große genug von diesem Schauspiel und stößt seinen Kumpel beiseite. Doch bevor er My mit seinem Körpergewicht auf den Sitz pressen kann, erkennt sie ihre Chance.
Im Bruchteil einer Sekunde schlüpft sie zurück in ihren Körper, kann sich nach hinten aus dem Auto herausschieben und dem Kerl von unten die Ferse in den Schritt rammen. Der Große verliert das Gleichgewicht und fällt rückwärts auf den Ängstlichen, der anscheinend nur auf eine Gelegenheit gewartet hat, um endlich ohnmächtig zu werden. Er rutscht aus und purzelt in den Graben.
My fängt an zu rennen, direkt in die schwarze Leere. Ein Ast reißt ihr die Haut im Gesicht auf. Doch sie rennt weiter und beißt die Zähne zusammen: Später, später kann ich drüber weinen.
Sie hat Todesangst, Angst zu stolpern und zu stürzen, und in ihrem Kopf überschlagen sich die Bilder. Bilder von sich selbst, wie sie mit dem Gesicht auf dem gefrorenen Boden liegt, wie ihre Verfolger sie einholen. Sie verscheucht diese Horrorbilder, alles, was jetzt zählt, ist Konzentration. Das Blut läuft ihr in den Mundwinkel und hinterlässt einen bitteren Eisengeschmack auf der Zunge. Schreien kann sie später, aber jetzt noch nicht, sie muss weiterlaufen und den Schrei in ihren Körper zurückdrängen. Als sie das Geräusch eines knackenden Zweiges hört, wirft sie einen Blick über die Schulter. Die Scheinwerfer des Pick-ups wirken überraschend nah.
Außer ihrem Herzschlag hört sie nichts mehr.
Schneller als er
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