Wintermord
einem Vernehmungszimmer der Polizei nicht nervös machte, weckten grundsätzlich Tells Misstrauen.
Sjödin räusperte sich zum dritten Mal, und endlich schien der Groschen zu fallen. Seine Erleichterung war deutlich hörbar, als er sagte: »Ach, jetzt weiß ich, wie das alles zusammenhängt! Am zweiten Weihnachtsfeiertag ist mir die Brieftasche gestohlen worden. Jemand hat wohl meinen Ausweis benutzt, um das Auto zu stehlen.«
»Wir sprechen hier nicht von einem Autodiebstahl, sondern von Mord.«
»Wollen Sie damit sagen, derjenige, der sich für mich ausgegeben hat, hat jemand ermordet?«
Tell antwortete nicht, sondern beobachtete, wie Sjödin diese neue Erkenntnis verarbeitete.
»Warum haben Sie den Diebstahl nicht gemeldet?«, fragte er schließlich.
»Hab ich doch!«, rief Sjödin empört. »Wenn die Katze meiner Tochter nicht überfahren worden wäre, hätte ich es sofort gemeldet, als ich vom Coop zurückkam. Ich war nämlich zum Einkaufen beim Coop in Borås, und dann hab ich an der Kasse bezahlt, und während ich meine Einkäufe eingepackt hab, muss der Dieb ...«
»Wann haben Sie den Diebstahl gemeldet?«
»Zwei Tage später, am 28. Dezember.«
»Können Sie sich an irgendjemand erinnern, der an der Kasse vor oder hinter Ihnen stand?«
Sjödin schüttelte den Kopf. »Darüber hab ich auch schon nachgedacht. Ich hab mich natürlich gefragt, wer den Nerv hatte, mir die Brieftasche quasi unter der Nase wegzuklauen, aber ich kann mich beim besten Willen an nichts Besonderes erinnern.«
»Vielleicht erinnern Sie sich, an welcher Kasse Sie gezahlt haben?«
»Das schon. Es war die Kasse, die am weitesten vom Eingang entfernt ist. Ich bin noch mal zurückgegangen und hab die Kassiererin gefragt, ob sie vielleicht meine Brieftasche gesehen hat. Hatte sie natürlich nicht.«
»Gut.«
Tell stand auf und streckte Sjödin die Hand hin, um ihm die unverletzte Rechte zu schütteln. »Ich werde mir Ihre Anzeige noch ansehen. Aber ansonsten wären wir fertig.«
Mark Sjödin blieb noch einen Moment sitzen. Er nahm seine Brille ab und putzte die Gläser, bevor er den Vernehmungsraum ohne jede Eile mit Tell verließ. »Und, wie stehen die Aussichten, dass ich meine Brieftasche wiederkriege?«, erkundigte er sich, ein wenig zu großspurig für Tells Geschmack.
Tell überließ den Wirtschaftsprüfer ohne Antwort seinem Schicksal, beziehungsweise Renée Gunnarsson, die ihn freundlich hinausbegleitete.
Tatsächlich verhielt es sich so, wie Sjödin ausgesagt hatte: Der Ausweis war gestohlen worden. Damit wurde es wahrscheinlicher, dass es sich bei dem Mann, der den Cherokee in Ulricehamn gemietet hatte, um den Mörder handelte.
Tell streckte den Kopf in Gonzales Zimmer. »Bestell den Jeep aus Ulricehamn zur technischen Untersuchung.«
Während Gonzales die Nummer von Johansson & Johansson wählte, hörte er das Telefon in seinem eigenen Büro klingeln.
Auf dem Display stand Seja Lundbergs Nummer. Prompt fiel ihm Ann-Christine Östergrens forschender Blick am Morgen ein. Verdammt, er hatte vergessen, gleich nach der Besprechung zu ihr zu gehen. Tell fluchte. Jetzt würde seine Chefin sich wirklich fragen, ob er ihr bewusst aus dem Weg ging. Was er ja tat. Sein Telefon hörte auf zu klingeln.
Manchmal muss man im Leben eine Wahl treffen, redete er sich ein. Im Grunde hatte er nicht mal eine Wahl: Er musste die Beziehung zu Seja beenden, wenn er sein Ansehen im Job nicht verspielen wollte.
Deprimiert machte er sich auf den Weg zu Ann-Christine Östergrens Büro, wo ihm die Sekretärin mitteilte, die Chefin habe sich bereits auf den Heimweg gemacht. Seine Erleichterung war groß.
Nun, da das Gespräch mit seiner Vorgesetzten ausgefallen war, fühlte er sich in der Lage, Sejas Nachricht abzuhören.
»Ich versuche, für eine Prüfung zu lernen, aber meine Gedanken sind ständig bei dir«, sagte sie. »Jetzt geb ich’s auf und ruf dich an. Du wirst mich ja wohl niemals anrufen. Ich hab beschlossen, dass ich zu alt bin, um so zu tun, als wäre ich schwer zu kriegen. Bin ich nämlich nicht.«
Dann brach die Mitteilung ab und hinterließ eine schmerzliche Leere in Tells Brust.
40
1995
Bis er sie so auf der Treppe stehen sah, ungeschminkt, zerzaust und hässlich wie ein Kobold, hatte ihn der Gedanke an Solveig schier wahnsinnig gemacht.
Er stellte sich vor, wie sie sich Jahre nach seinem Verschwinden zufällig auf der Straße begegneten. In seinem Tagtraum war er fünfundzwanzig und trug einen hellen Sommeranzug,
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