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Wintermord

Wintermord

Titel: Wintermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Camilla Ceder
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sich dagegenzustemmen. Einen Moment befürchtete er, sie sei betrunken.
    »Mama«, sagte er und hörte selbst, wie flehend seine Stimme klang. Er hasste diese flehende Stimme. Er wollte aufstehen, sich neben sie stellen und sich endlich nicht mehr fühlen wie ein Kind. Er wollte sich vergegenwärtigen, dass er mittlerweile zehn Zentimeter größer war als sie, er wollte ihr Gesicht sehen.
    »Mama.«
    »Wenn du wüsstest, wie verängstigt du aussiehst.« Ihre Stimme erinnerte an gesprungenes Porzellan. »Du hast solche Angst vor mir, mein Junge. Weil du weißt, dass My in dieser Nacht wegen dir losgefahren ist. Weil du weißt, dass ich weiß, dass du dich geweigert hast mitzukommen, und dass sie deswegen allein im Wald gestorben ist. Du meinst, du hättest sie genauso gut selbst vergewaltigen und töten können. Es ist nicht wichtig, wer den letzten Schlag ausgeführt hat. Wichtig ist nur, wer den Ball ins Rollen gebracht hat. So denkst du. Und deswegen hast du Angst.«
    Er starrte auf die Silhouette, um auszumachen, ob sie sich auf sein Bett zubewegte, doch sie stand wie angenagelt auf der Schwelle und schwankte jetzt auch nicht mehr. Die Worte schienen die schwache Gestalt zu stützen.
    »Sie ist nicht vergewaltigt worden«, widersprach er leise. »Sie ist gestürzt und hat sich den Kopf an einem Stein aufgeschlagen.«
    »Du brauchst keine Angst zu haben«, fuhr die Silhouette fort und wandte sich langsam zum Flur, sodass er kurz das Profil seiner Mutter mit dem weichen Kinn erkennen konnte. »Aber ich kann nur sagen, was ich immer gesagt habe, als du noch klein warst: Du musst alles zugeben und darfst nicht so tun, als wäre nichts passiert. Ich werde nur böse, wenn du so tust, als wäre nichts passiert. Du bist doch alles, was mir geblieben ist. Wir müssen jetzt zusammenhalten.«
    Sie schloss die Tür. Nachdem Sebastian seine Nachttischlampe angemacht hatte, stierte er auf den Fischteppich und versuchte, tief und gleichmäßig zu atmen. Nach einer Weile drang ein Geräusch in sein Bewusstsein, das Ticken des Sekundenzeigers an seinem Wecker.
    Langsam wurde ihm klar, was die Hand an seiner Kehle bedeutet hatte. Der Fischteppich war zur Seite gerutscht und gab den Blick auf einen Fleck auf dem Linoleum frei, der genauso groß war wie der Fleck vor seinem Bett in Rydboholm. Wie seltsam das war. Wahrscheinlich war es das Zeichen, auf das er gewartet hatte. »Was war zuerst da, der Teppich oder der Fleck?«, murmelte er vor sich hin, bis sein Herzschlag sich beruhigt hatte.
    Als er wieder klar sah, war seine Entscheidung gefallen: Er würde noch mehr Flecken in Kauf nehmen. Und dafür musste er jetzt ins Krankenhaus fahren.
    Hastig schlüpfte er in seine Kleider, schlich auf den Flur und zog Jacke und Schuhe an. Die Tür zu Solveigs Zimmer war geschlossen, aber am unteren Rand sah man einen Lichtschein. Sebastian horchte angespannt, konnte aber nicht ausmachen, ob seine Mutter tief schlief oder ob die langsamen Atemzüge von ihm selbst kamen. In dieser Wohnung hatte er keine Kontrolle mehr über seinen Körper.
    Sobald er das Haus verlassen hatte, normalisierte sich sein Puls. Als ihn die Lichter der leeren Straßen in der Innenstadt umfingen, hörte er auf zu rennen und spuckte so lange aus, bis der Blutgeschmack aus seinem Mund verschwunden war.
    Es war, wie er angenommen hatte: Niemand überwachte einen hirntoten Patienten.
    My lag allein in ihrem Zimmer, umgeben von den Apparaten, die sie am Leben hielten. Eine gelbliche Nachttischlampe brannte, aus Barmherzigkeit für die Angehörigen oder einfach für die Nachtschwester, die auf ihrer Runde vorbeikommen würde, um die Funktion des Beatmungsgeräts zu kontrollieren und die Monitore, die ihr sagten, wie es um die lebenden Toten bestellt war. The Living Dead .
    Die Wahrscheinlichkeit, dass die Nachtschwester in der nächsten halben Stunde hier auftauchen würde, war gering. Und in einer halben Stunde war er sowieso schon wieder weg.
    Sebastian ergriff die schlaffe Hand und staunte, wie warm sie war, wie die ärztliche Wissenschaft den Körper so erfolgreich künstlich am Leben halten konnte. Bestimmt waren die Ärzte, die diese Schläuche im Körper seiner Schwester verlegt hatten, mächtig stolz auf sich. Dabei wussten sie überhaupt nichts.
    Sie wussten nichts vom Grenzland zwischen Leben und Tod oder von der Angst. Sie wussten nicht, wie es war, niemals irgendwo ankommen zu dürfen, das Recht auf die diesseitige Welt verloren zu haben, ohne in die andere

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