Wintermord
eintreten zu können.
So ein Grenzmensch zu sein hatte einen besonders quälenden Aspekt, hieß es in dem Comic: Das Übergangsland war nämlich in die normale Welt integriert, erinnerte er sich.
Er meinte zu hören, wie My ihm die Worte ins Ohr flüsterte: Diese unglücklichen Grenzmenschen sind unsichtbar, sind aber in jeder Sekunde um uns – sie sehen uns, aber wir sehen sie nicht. Ihr heimatloses Dasein macht ihnen Angst. Die Angst gibt ihnen ein Gefühl der Machtlosigkeit. Ihre Ohnmacht weckt ihre Wut. Doch sie können sie auf nichts richten, denn sie sind ja unsichtbar – außer für ihresgleichen – und haben schreckliche Angst voreinander. Sie können ihre Wut nur gegeneinander richten, und keine Angst könnte schlimmer sein als die, dass man nicht weiß, ob oder wann einem etwas Schreckliches zustoßen wird.
Wer war zuerst da, der Teppich oder der Fleck?
Er würde nicht mehr mit sich leben können, wenn er sich jetzt von seiner jämmerlichen Angst abhalten ließ.
Das Ganze ging leichter, als er gedacht hatte. Als das Zischen des Beatmungsgeräts verstummte und der letzte Seufzer wie ein »Ciao« klang, antwortete er nur: »Ciao, My.« Wie zum Zeichen, dass er das Richtige getan hatte, konnte er plötzlich wieder ganz leicht atmen.
My hatte das Übergangsland verlassen und war ins Totenreich eingetreten.
41
2007
Das schnurlose Telefon lag neben ihr auf der Bank an der Stallmauer. Sie wusste nicht, wie lange sie dem hartnäckigen Freizeichen gelauscht hatte, bevor sie die Verbindung unterbrach.
Mittlerweile kannte sie Christian Tells Anrufbeantwortersprüche auswendig, sowohl den in der Arbeit als auch den zu Hause. Wenn sie wollte, konnte sie seinen melodischen Göteborger Dialekt täuschend ähnlich nachmachen: Sie sind verbunden mit Christian Tells automatischem Anrufbeantworter. Leider kann ich Ihren Anruf nicht ... Aber so ein lächerliches Talent wollte sie gar nicht weiterentwickeln.
Die Hände, die das Telefon jetzt hielten, waren in der Kälte ganz rot und trocken geworden. Langsam zog sie die Handschuhe an und versuchte ihre Kräfte zu sammeln, um aufzustehen und den Stall auszumisten.
Da sitz ich nun wieder, dachte sie. Tränen der Wut stiegen ihr in die Augen. Dabei hatte sie sich doch geschworen, sich nie wieder so demütigen zu lassen. Als Martin sie verließ, hatte sie sich geweigert, das Häuschen als Symbol für ihre gescheiterte Vision zu sehen. Stattdessen klammerte sie sich an den Gedanken, dass es für ihr neues Leben als starke und selbstständige Frau stand.
Das Haus, das Pferd, die Katze und alle Projekte, die zu ihrem Leben auf dem Land gehörten, lenkten sie ab von ihrer Angst, einsam und ungeliebt zu enden. In regelmäßigen Abständen hatte sie zwar noch ihre Durchhänger – aber insgesamt war sie zufrieden mit ihrem Leben.
Und genau deswegen verfluchte sie nun Christian Tell. Er hatte sich nicht damit begnügt, die alten Dämonen wieder an die Oberfläche zu locken, er hatte sie auch als Frau abgelehnt. Seit zwei Tagen ging er nicht ans Telefon und rief nicht zurück, obwohl sie ihm schon zwei Nachrichten auf Band gesprochen hatte.
Sie seufzte. Sie war erwachsen und wusste, dass an Liebeskummer noch keiner gestorben war.
In ihrem Hinterkopf spukte ständig der Fall, an dem der Verräter arbeitete. Der Grund, warum sie überhaupt mit ihm in Kontakt gekommen war.
In der Schublade des Sekretärs, den sie vom alten Gren geerbt hatte, lag die Mappe mit den Fotos aus Björsared. In den ersten Tagen, als sie noch unter Schock stand, hatte sie sich pausenlos gefragt, was sie mit den Erinnerungen anfangen sollte, die immer aufdringlicher ihre Aufmerksamkeit forderten.
Dann kam die Geschichte mit dem Kommissar dazwischen. In seiner Gegenwart hatte sie sich so sicher gefühlt, dass sie diese Gedanken verdrängen konnte. Erst da konnte sie richtig anfangen zu schreiben. Diesen Widerspruch akzeptierte sie: Sie brauchte Distanz zu ihrem Erlebnis, einen gewissen Abstand zwischen sich und dem Toten, bevor sie die Dinge in Worte fassen konnte.
Die Leere, die Christian Tell hinterlassen hatte, machte ihr bewusst, wie sehr sie die Liebe zu einem Mann in ihrem Leben brauchte, um wirklich zufrieden zu sein. Hilflos wurde sie in die Zeit Mitte der Neunziger zurückgeschleudert, als sie sich noch die Haare blond färbte, einen Ring in der Unterlippe hatte und sich von einer Umarmung in die nächste stürzte. Ihr Hunger nach Liebe war dem von heute nicht ganz unähnlich, aber der
Weitere Kostenlose Bücher