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Wintermord

Wintermord

Titel: Wintermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Camilla Ceder
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in dem er Selbstsicherheit ausstrahlte. Aus irgendeinem Grunde spielte diese Szene in Villastaden, vor einem der Eingänge zum Annelundspark. Er ergriff ihre verkrüppelten grauen Hände, und sie flüsterte: »Durch meine eigene Dummheit hab ich dich verloren, Sebastian. Lass nicht zu, dass ich dich noch mal verliere.«
    Natürlich würde er ihr verzeihen. In einer Version sagte sie: »Ich hab dich auf der ganzen Welt gesucht.« Aber das war völlig unrealistisch und befriedigte ihn nicht. Zum einen, weil Solveig niemals allein um die Welt hätte reisen können, und zum andern, weil das einzige Versteck, das ihm einfallen wollte, Brasses Wohnung war.
    Wäre er zu Krister gegangen, hätte dessen Mutter schon am ersten Tag bei Solveig angerufen.
    Da Brasses Wohnung nicht unbedingt ein Geheimnis war, würde Solveig als Erstes bei ihm suchen, dann konnte sie sich den Rest der Welt gleich sparen.
    Und sie hatte es tatsächlich getan. Sie hatte ihn gesucht. So schwer die Last seiner Schuld auch war, sie hatte ihn gesucht. Eine seltsame Energie durchströmte seinen Körper, und erst da merkte er, wie sehr er gefroren hatte. Als der müde Kobold ihn ansah, fühlte er sich seltsamerweise, als würde er nach einer Skitour durch einen Schneesturm in eine warme Badewanne steigen.
    »Was machst du denn hier?«, fragte er. Er wollte sich vergewissern, dass sie nicht gekommen war, um ihn des Mordes zu beschuldigen oder eine Bombe in Brasses verdreckte Einzimmerwohnung zu werfen.
    »Sie haben mich gezwungen, nachzudenken, bevor ich einen Entschluss treffe«, antwortete sie mit dünner Stimme. Sie sah aus wie ein Kind. In ihrer schmutzigen Leggins, dem hellgelben Zopfmusterpulli, unter dem sich keine sichtbare Brust wölbte, und den ehemals weißen Turnschuhen, deren dünne Gummisohlen durchgelaufen waren. Nicht einmal ihre Falten hinter den grau durchzogenen Haarsträhnen ließen sie wie eine Frau mittleren Alters aussehen.
    »Du musst ja total durchgefroren sein«, sagte er und zeigte auf ihre Windjacke und die dünnen Schuhe.
    »Sie wollten, dass ich nachdenke«, wiederholte sie, »ob ich möchte, dass sie Mys Maschinen abschalten oder nicht.«
    Ihre Stimme hallte im Treppenhaus. Sebastian hörte, wie unten die Haustür aufging und jemand die Treppen hochstieg.
    »Willst du nicht reinkommen?«, er war froh, dass Brasse nicht zu Hause war. Überraschend entschlossen betrat Solveig den kleinen Flur. Sie stand so nah vor ihm, dass er ihren Atem riechen konnte – Halspastillen und etwas, irgendwie Chemisches. Sie umklammerte seinen Arm so fest, dass er später einen blauen Fleck von ihrem Daumen bekam.
    »Die meinen, ich soll meine eigene Tochter töten. Die wissen doch überhaupt nichts. Von mir. Oder von My. Ich hab gesagt, dass ich darüber nicht nachzudenken brauche. Aber sie wollten, dass ich nach Hause gehe und nachdenke. Sie haben gesagt, dass nur ich das entscheiden kann.«
    »Aber eigentlich ist sie doch schon tot, Mama. Ihr Gehirn ist doch tot«, wandte Sebastian ein.
    So schnell, wie sich der Klammergriff löste und eine brennende Ohrfeige auf seiner Wange landete, konnte er gar nicht reagieren. Solveig brach in Tränen aus und fiel ihm um den Hals. Der Geruch nach Lutschtabletten wich dem Geruch von Mamas Haar, der weder gut noch schlecht war – es roch einfach nach Mamas Haar. Sie weinte.
    Er schloss die Augen und hielt seine eigenen Tränen zurück.
    »Jetzt müssen wir kämpfen, Sebastian«, sagte sie.
    Er bekam ihre Haare in den Mund. Plötzlich fiel ihm der Titel des Comics wieder ein: »The Living Dead« . Die lebenden Toten.
    Er zog wieder zurück nach Hause.
    In der Nacht kam Solveig in sein Zimmer. Das hatte sie noch nie gemacht.
    Obwohl er traumlos geschlafen hatte, wachte er panisch auf, so als hätte sich eine Hand auf seine Kehle gelegt und ihm die Luft abgedrückt. Doch Solveigs Hände konnten es nicht gewesen sein, denn sie stand noch an der Tür. Im Flur brannte Licht. Von seinem Bett aus war Solveig nur eine Silhouette. Ihre langen Haare fielen ihr wie Grasbüschel über die schmalen Schultern.
    Er versuchte, ruhig zu atmen, und schwor sich, ab jetzt nur noch mit Licht zu schlafen. Noch wusste er nicht, was Solveig dachte und wie viel Schuld sie ihm gab, ob sie Medikamente nahm oder ob sie alles verstanden hatte.
    »Was machst du denn da?«, fragte er.
    Sie antwortete nicht. Sie stand einfach nur da und begann zu schwanken, als würde ihr ein Wind aus dem Zimmer entgegenwehen und sie hätte keine Kraft,

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