Wintermord
Gedanke tat so weh, dass sie ihn von sich wies: Weitere Ähnlichkeiten konnte es nicht geben, Punkt.
Mochte es auch erst zehn Jahre her sein, das war ein ganz anderes Leben. Von ihrem damaligen Freundeskreis war ihr niemand geblieben.
Hanna vielleicht. Hanna war ihr geblieben. Sie war ihre letzte »beste Freundin« gewesen, bevor ihr dieser Ausdruck irgendwie peinlich und fremd wurde.
Vor ein paar Jahren hatten sie versucht, den Kontakt wieder aufleben zu lassen. Doch Seja bemerkte etwas Gezwungenes an Hanna, eine gespielte Vertrautheit, die sie in ihren Teenagerjahren nicht gehabt hatte.
Natürlich hatte sie selbst auch nur Ausschnitte ihres Lebens präsentiert und Vergangenheit wie Gegenwart gnädig beschönigt. Zwischen ihnen war so viel ungesagt geblieben, weil keiner bereit war, offen zu reden. Als Seja das letzte Mal bei Hanna anrief, war ihre Freundin umgezogen und hatte ihre neue Nummer nicht angegeben.
Jetzt war Hanna Aronssons stark geschminktes Gesicht wieder in ihrem Kopf aufgetaucht, und Seja konnte das Bild nicht mehr abschütteln. Sie fühlte sich bereit, mit Hanna zu sprechen.
Sie hätte sich in die eigene Tasche gelogen, wenn sie geglaubt hätte, ihre Unruhe abschütteln zu können. Was Christian in der Silvesternacht beiläufig über den anderen Mord gesagt hatte, war für sie wie ein Schlag ins Gesicht.
Sie musste handeln.
Die Telefonauskunft gab ihr die Nummern von sechs Hanna Aronssons im Raum Göteborg. Die erste wohnte in der Engelbrektsgata in Vasastan und legte wortlos auf, als sie merkte, dass Seja falsch verbunden war. Dann gab es noch eine Hanna Aronsson in Gåsmossen in Askim und eine im Danska väg, die beide nicht zu Hause waren.
Beim vierten Versuch, in der Paradisgata in Masthugget, hatte sie Glück: Sie erkannte Hannas Stimme sofort, dunkel, sinnlich und ein bisschen angespannt, diese erwachsene Stimme, die sie schon als Teenager gehabt hatte. Sie wollte nicht recht zu den grün-rosa-gestreiften Haaren passen, die sie sich in der Badewanne mit Shock-Farben färbte, und den Doc Martens-Stiefeln, deren perfekten Abnutzungseffekt sie mit Sandpapier erzielte.
Hanna war ab der siebten Klasse Sejas beste Freundin, und ihre Beziehung war von Rivalität, Grenzüberschreitungen und einer unterschwelligen Erotik geprägt. Ein paar stürmische Jahre lang teilten sie Kleider und Vertrauen, ein paar Tage lang sogar den Freund, bis sich herausstellte, dass »der Richtige«, von dem sie sich gegenseitig erzählten, ein und derselbe Junge war. Nach kurzer Feindschaft kamen sie wieder zur Vernunft und verbündeten sich gegen ihn.
Bei diesen Erinnerungen packte Seja die Nostalgie: Hannas schmales Bett in der Landsvägsgata, eine Kanne Tee, die wunderbare Musik aus der Stereoanlage: Cindy Lauper, Doom, Asta Kask, Kate Bush.
Sie verbarrikadierten sich in Hannas Zimmer, während die Mutter mürrisch im Wohnzimmer saß, Wein trank und Ulf Lundell über Kopfhörer hörte. Ein paar Jahre später nahm sie sich das Leben. Seja hatte es in der Zeitung gelesen, eine kurze Meldung über eine Persönlichkeit des Göteborger Kulturlebens, die tot in ihrer Wohnung aufgefunden worden war – keinerlei Hinweise auf ein Verbrechen.
Aber damals in der Landsvägsgata, im Dunst ihrer selbstgedrehten Zigaretten, ahnten Hanna und Seja natürlich noch nichts von der Zukunft.
Sie gingen in dieselbe Klasse, und obwohl weder Hannas Mutter noch Sejas Eltern es gerne sahen, dass Seja unter der Woche bei ihrer Freundin übernachtete, reichte das Missfallen wohl nicht so weit, es zu verbieten.
Gegen Mitternacht drehten sie die Musik leiser und unterhielten sich nur noch flüsternd, damit nicht irgendwann eine angesäuselte Mutter an die Tür hämmerte. Glücklicherweise war Hannas Zimmer so gelegen, dass sie sich in die Küche und aufs Klo schleichen konnten, ohne am Schlafzimmer von Hannas Mutter vorbeigehen zu müssen.
Am Morgen war der Linoleumboden klebrig von verschüttetem Tee mit Honig. Die leeren Plattenhüllen lagen neben den Büchern, aus denen sie sich vorgelesen hatten: Anthologien mit Gedichten junger Erwachsener, die mit großen Worten über die Liebe schrieben.
Sie erinnerte sich nicht mehr, was sie eigentlich auseinandergebracht hatte. Vielleicht das Gymnasium. Sie entschieden sich für unterschiedliche Richtungen. Hanna pendelte zu einer Schule mit handwerklichem Schwerpunkt, die sie zwar ein Jahr später wieder aufgab, aber da war es schon zu spät. Der Kontakt war abgerissen.
Es wollte ihr kaum
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