Wintermord
in den Kopf, dass es nur wenige Jahre gewesen sein sollten – sie hatte geglaubt, dass Hanna sie besser kannte als jeder andere. Besser als ihre eigenen Eltern. Besser als ihre Sandkastenfreundinnen, die mit der frühreifen Seja nichts mehr zu tun haben wollten, als die schon mit Jungs ins Bett ging und in den Sommerferien nach der neunten Klasse eine Abtreibung vornehmen lassen musste.
Es kam ihr vor, als hätte ihre Freundschaft an genau diesem Abend ihren Höhepunkt gefunden: Nachdem man sie aus dem Krankenhaus mit der Auflage entlassen hatte, sofort nach Hause zu ihren Eltern zu fahren, ließ sie sich in Hannas Bett fallen.
Die rotweinselige Mutter schlich misstrauisch um Seja herum und fragte immer wieder, ob sie nicht doch ihre Mama anrufen sollte. Schließlich schrie Hanna sie an, sie solle endlich ins Bett gehen.
Nach dieser Nacht war die Freundschaft langsam zu Ende gegangen und beschränkte sich schließlich auf zufällige Treffen auf irgendwelchen Partys.
Hanna lachte verlegen, als Seja sie anrief. »Mann, das ist schon mindestens sechs Jahre her. Oder noch mehr? Was machst du denn jetzt so?«
»Was machst du?«, erwiderte Seja. Da hörte sie im Hintergrund ein Kind plappern. »Bist du Mutter geworden?«
»Jaaa ...«
Der Stolz in Hannas Stimme war nicht zu überhören. »Er heißt Markus. Er ist vier.«
»O Gott, ich hatte ja keine Ahnung ...«
»Na ja, ist doch kein Wunder. Wir haben uns ja seit ...«
Sie zögerte.
»Ich hab von deiner Mutter gelesen. Das tut mir sehr leid.«
Seja befürchtete schon, zu forsch gewesen zu sein. Sie hörte Hanna tief durchatmen.
»Ja. Ja. Danke. Es ist ziemlich bald nach unserem letzten Treffen passiert. Schon komisch, dass man so wütend auf jemand sein kann, der nicht mehr leben will – aber für mich war es wie ein Verrat. Wie ein Faustschlag mitten ins Gesicht. Da, da hast du ’ s, du hast wohl gedacht, ich müsste immer für dich da sein, bloß weil ich zufällig deine Mutter bin ... Wahrscheinlich ging es ihr nie so richtig gut. Sie hat sich in der Badewanne die Pulsadern aufgeschnitten – so wie wir es damals in unseren pubertären Gedichten geschrieben haben. Sie hat es in die Tat umgedacht.«
»Ich hab’s in der Zeitung gelesen, allerdings wusste ich nicht, wie ... Ich meine, wie sie ...«
»Ja, ich versteh schon. ›Eine Persönlichkeit des Göteborger Kulturlebens‹, sicher doch. Das war wirklich diplomatisch ausgedrückt. In den letzten zehn Jahren war sie wahrscheinlich nicht mal mehr eine Ehemalige. Im Grunde ist sie ja niemals ein richtiger Jemand gewesen. Nur eine Alkoholikerin mit Minderwertigkeitskomplexen, die sich hinter ihrem Größenwahn versteckte. Mann, ich bin echt gemein. Aber du weißt ja sicher noch, wie sie war.«
Seja schwieg. In der Gegenwart von Hannas Mutter hatte sie sich immer irgendwie unwohl gefühlt, aber sie hatte nie herausgefunden, woran das lag.
Hanna schien sie zu verstehen. »Ich meine, ich fand sie damals echt nervig, aber welcher Teenager hält seine Mutter nicht für nervig? Erst später hab ich kapiert, dass sie wirklich psychisch krank war. Eine alternde Frau auf dem Egotrip, die ihrem Kind lieber die Mutter nimmt, als sich aufzuraffen und sich einen Job zu suchen. Nein, sie musste die unkonventionelle und missverstandene Schauspielerin geben. Lieber sterben, als bei ICA an der Kasse zu sitzen.«
Sie lachte roh, und es entstand eine Pause. »Entschuldige. Im Moment komme ich mir genauso verrückt vor wie sie. Da rufst du mich nach Jahren an, und ich labere dich einfach so zu ... Du hast mich total unvorbereitet erwischt, und als ich deine Stimme hörte, kamen auf einen Schlag die Erinnerungen wieder hoch. Unsere ersten Teenagerbesäufnisse und unsere ersten ... Wir haben alle ersten Male miteinander geteilt.«
»Ja, in den Jahren macht man wohl alles zum ersten Mal«, stimmte Seja zu und schämte sich, Hanna aus lauter Trägheit nicht schon eher angerufen zu haben.
Hanna sprach es aus: »Ich hatte so oft vor, dich anzurufen, weißt du. Die letzten Male, als wir uns getroffen haben, ging es mir wirklich nicht besonders gut ...«
Sie begann zu erzählen. »Es fing eigentlich an, als ich das Gymnasium abgebrochen habe. Ich schlidderte in die Magersucht und ... ach, du weißt schon, irgendwie wurde mir plötzlich alles zu viel. Die Kerle und der ganze Mist ...«
Seja nickte, obwohl man das übers Telefon nicht hören konnte. Sie glaubte, ihre Freundin zu verstehen. Sie hatte es ja selbst erlebt, in den
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