Wintermord
Punkerkreisen, zu denen sie unbedingt gehören wollte. Nach ihrem ersten peinlichen sexuellen Erlebnis hatte sie selbst geglaubt, dass hier der Schlüssel zu Liebe und Bestätigung lag, und dann endete es doch nur immer wieder in Demütigungen und Herzschmerz.
Sie wusste noch, wie sie einmal zusammen an Hannas Schminktischchen saßen und sich kritisch im Spiegel musterten. »Wir sind zwei richtig schäbige Schlampen«, hatte Hanna gesagt, und Seja hatte genickt. Sekunden später prusteten sie beide los.
Dabei hatte Seja sich noch einen besseren Ruf bewahrt, weil sie sich mit einem Jungen außerhalb ihres Bekanntenkreises traf, mit dem sie Ende der neunten Klasse ein halbes Jahr zusammen war. Hanna tanzte von einem zum nächsten, und dass sie sich vulgär ausdrückte, häufig sexuelle Anspielungen machte und sich in knallenge Tops und Jeans zwängte, machte die Sache nicht besser: Hanna wurde zur »Matratze« abgestempelt.
Den Spitznamen »Herpes-Hanna« hörte Seja zum ersten Mal im Café am Nordbahnhof. Alle wussten, dass sie Hannas Freundin war, und sie genoss es. Der Spitzname wurde immer gebräuchlicher, und Seja protestierte zwar jedes Mal, doch sie spürte, wie ihr Selbstvertrauen wuchs, weil sie im Vergleich zu ihrer Freundin gut abschnitt, von der sie doch immer geglaubt hatte, dass sie eine Liga höher spielte, mit ihren großen Brüsten und der erotischen Stimme.
Wahrscheinlich hatte jeder Teenager eine gewisse Neigung zur Schadenfreude und verglich sich ständig mit anderen, aber Seja schämte sich trotzdem, als Hanna jetzt erzählte, wie schlecht es ihr ergangen war.
»Ich bin nach Strömstad gezogen und dort aufs Gymnasium gegangen, da lebte ein guter Freund von Mama. Ich war weg von allem und konnte ganz neu anfangen. Das tat mir gut. Das kann richtig süchtig machen: die eigenen Wurzeln rauszureißen und sich woanders neu einzupflanzen.«
Seja dachte an ihr Häuschen und fasste einen spontanen Entschluss: »Ich wollte dich zu mir einladen. Nimm Markus mit und komm zu mir. Allerdings habe ich unter anderem auch angerufen, weil ich deine Hilfe brauche.«
»Womit sollte ich dir denn helfen können?«
»Ich brauche deine Hilfe, weil ich in der Vergangenheit graben möchte.«
In Hannas Lachen lag ein sarkastischer Unterton. »Mannometer, Seja. Aber okay, ich kann ganz wunderbar in der Vergangenheit graben.«
»Außerdem bin ich unglücklich verliebt«, fügte Seja rasch hinzu, »und hier stehen ein paar Flaschen Wein rum. Du würdest mir einen großen Gefallen tun, wenn du herkommst und mir beim Austrinken hilfst.«
Diesmal war Hannas Lachen fröhlicher. »Wann? Jetzt?«
»Klar, jetzt gleich. Ich hol dich an der Bushaltestelle ab.«
»Bescheuert.«
»Klar war sie das, aber ich glaube, sie hat sich zum Letzten aufgerafft, bevor sie ... verschwand.«
»Verschwand??«
Vom vielen Wein waren ihre Lider schwer geworden, aber nun musterte Hanna sie aus aufgerissenen Augen.
Markus war mittlerweile friedlich eingeschlafen.
Seja stieß das Küchenfenster ein Stückchen auf und ließ die Mitternachtsluft herein, während Hanna sich eine Zigarette anzündete. Als die zu hoch eingestellte Flamme aus dem Feuerzeug ihr fast die Wimpern versengte, zuckte sie zurück. »Verdammt! Genau wie früher!«
»Nein, also ... Doch, sie ist verschwunden, aber das ist jetzt vorerst egal. Ich muss nur wissen, wer sie war. Später erklär ich dir alles.«
»Ich würde dir ja gerne helfen, Seja, aber ich kann mich nicht erinnern. Es gab so viele in unserer Clique, die kamen und gingen ... Moment, schwarze Haare hast du gesagt?«
»Ja, schwarze Haare, zumindest damals – davor hatte sie, glaube ich, rote oder rosarote Haare. Ich hab sie eine Weile öfter im Nordbahnhof getroffen, und als wir uns dieses letzte Mal begegneten, haben wir darüber geredet. Sie hat immer in die Gästebücher geschrieben. Ihr Pseudonym war ... äh ... verdammt, jetzt fällt’s mir nicht mehr ein.«
Hanna lächelte, als sie an die Gästebücher des Cafés im Nordbahnhof dachte. »Mein Pseudonym war Hannami.«
Seja wurde immer eifriger. »Ich möchte zu gern wissen, wo diese Bücher gelandet sind, als das Café geschlossen wurde.«
»Ich hoffe doch, dass sie die verbrannt haben. Wenn ich dran denke, was für einen peinlichen Mist man da reingeschrieben hat.«
Sie verschüttete etwas Wein auf ihre Hose. Seja stand auf, um Salz zu holen, doch Hanna winkte nur ab.
»Ach, scheiß drauf. Ich krieg meine alten Jeans sowieso nicht mehr zu. Es
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