Winternacht
nach ihrem Herzstein zu nehmen. Ich hatte das dumpfe Gefühl, dass die Königin von Schilf und Aue mehr über das wusste, was hier geschah, als sie uns mitteilen wollte.
»Oh, sie wird sich nicht sträuben. Es ist Tag – die Vampire schlafen, der Indigo-Hof auch. Ich bringe ihn mit meinen eigenen Wachen hin. Ihr tut nichts, bis ich zurückkomme. Heute werden wir Myst in ihrer Höhle aufspüren. Heute werden wir in den Krieg ziehen, und ich bringe Verstärkung mit.« Er sah mir direkt in die Augen.
Ich nickte und schluckte den Kloß in meiner Kehle herunter. »Wir bereiten alles vor. Ich werde das Obsidianmesser mit in die Schlacht nehmen.«
Wrath runzelte die Stirn. »Das gefällt mir nicht, wie du weißt, aber das hält dich normalerweise ja nicht davon ab, es trotzdem zu tun. Doch weder Rhiannon noch Chatter noch du dürft fallen. Und auch Grieve muss das hier überleben. Wenn ihr euch also in unmittelbarer Gefahr befindet, zieht euch zurück. Lasst andere vorausgehen.«
»Aber warum ist das so wichtig? Was verschweigst du uns?« Ich wollte Antworten. Ich hatte es satt, Königsbauer in diesem Verwirrspiel zu sein. Irgendetwas Großes entfaltete sich, und wenn ich ein Bestandteil davon sein sollte, dann wollte ich auch wissen, um was es sich handelte.
»Rede nicht so mit mir, Kind –«
»Denken Sie nicht, Sie schulden ihr die Wahrheit, Wrath?« Eine Stimme an der Tür schnitt ihm das Wort ab. Dort stand Ysandra Petros mit ihren drei übrig gebliebenen Konsortiumsmitgliedern. Peyton sah mich schuldbewusst an und zuckte mit den Achseln.
Die vier trugen ihre Kampfanzüge, und obwohl diese etwas mitgenommen aussahen, tat das Ysandras beeindruckender Erscheinung keinen Abbruch: Ob strenges Businesskostüm oder knallenger Einteiler, Ysandra Petros sah stets aus wie aus dem Ei gepellt.
Mein Vater sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Ich würde meinen, dass Sie das nichts angeht.«
»Ich denke, dass uns das alle angeht … Die Vampirfeen bedrohen uns alle, und was bisher geschehen ist, verändert das Spielfeld kontinuierlich. Cicely und Rhiannon sollten unbedingt mehr wissen, als Sie ihnen bisher erzählt haben, und sei es nur, um zu verstehen, warum sie unbedingt am Leben bleiben müssen.«
Ysandra sah enorm angefressen aus. Ich hatte noch nicht erlebt, dass jemand sich gegen meinen Vater auflehnte – außer Lannan vielleicht, aber im Ernstfall zog auch er den Kopf ein.
Mein Vater schüttelte den Kopf. »Es ist noch zu früh –«
»Ach, und wann ist es endlich so weit? Wenn sie sich in die Schlacht stürzt, um uns alle zu retten, und sich in den Fängen irgendeines Schattenjägers befindet? Sie hat nicht mehr Ahnung, was hier vor sich geht, als die vielen Yummanii oder Werwesen, die heute Morgen die Toten des gestrigen Gemetzels zählen. Sie können sie nicht ewig schützen.« Ysandra deutete auf mich. Mittlerweile brüllte sie beinahe. »Die Würfel sind gefallen, die Bündnisse längst besiegelt. Das Schicksal der Mädchen steht fest. Es ist ihr Recht zu wissen, was hier gespielt wird. Ich habe Sie vor vielen Jahren hiervor gewarnt, als Sie unsere Hilfe ablehnten. Ich wusste von Anfang an, dass es so kommen würde.«
»Von Anfang an? Was meinen Sie damit?« Blinzelnd wandte ich mich ihr zu. »Wie lange wissen Sie denn schon von all dem hier? Warum ist eigentlich keiner aufrichtig zu mir? Wussten Sie bereits, was gespielt wird, als wir uns zum ersten Mal begegnet sind? So langsam habe ich die Nase gestrichen voll davon, immer außen vor gelassen zu werden.«
Rhiannon kam zu mir und schlang einen Arm um meine Taille. »Auch ich will endlich Bescheid wissen. Wenn ich mit in dieser Sache stecke, dann will ich es auch wissen. Ich habe kürzlich dabei geholfen, meine Mutter zu töten, weil Myst sie verwandelt hat. Ich habe verdammt noch mal auch ein Recht auf die Wahrheit. Und ich will wissen, warum ich jene Tür wahrgenommen habe, die angeblich nur Wesen mit Cambyra-Blut sehen können.«
Und so standen wir uns unnachgiebig gegenüber, erstarrt wie in einer eingefrorenen Spielszene. Wrath blickte verunsichert zu Ysandra und von Ysandra zu mir und Rhiannon, und fast tat er mir leid. Offenbar kämpfte er schwer mit der Entscheidung.
Ich kniete mich wieder neben Grieve und wandte mich an Chatter, der Grieves Kopf vorsichtig auf seinen Schoß gebettet hatte.
»Wie geht’s ihm?«
»Schläft tief und fest. Aber es lässt sich nur schwer sagen, was wohl geschieht, wenn er zu sich kommt. Er sollte
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