Winternacht
werdet ihr eure Kräfte brauchen.« Doch als ich schließlich hinter den anderen den Raum verlassen wollte, hielt er mich auf und zog mich beiseite.
»Was ist?«, fragte ich.
Er hob mein Kinn an und schaute mir in die Augen. »Sei heute Nacht vorsichtig, Tochter. Blutdurst liegt in der Luft, ich kann es sehen. Die Macht des Windes ist nun ein Teil von dir, auch wenn du dir dessen noch nicht bewusst bist. Der Fächer – schlag ihn auf.«
Ich holte den Fächer hervor und breitete ihn aus. Als ich ihn in der Hand hielt, erkannte ich plötzlich, dass ich nichts mehr spüren konnte: kein Prickeln von Magie, kein Vibrieren – nichts. »Was ist passiert?«
»Du bist zum Hurrikan geworden. Du bist Wind geworden. Die Kraft des Fächers ist in deine Seele übergegangen. Du brauchst ihn nicht mehr, wenn du die Winde anrufen willst, weil du Teil seines Elements geworden bist. Und das ist ein zweischneidiges Schwert. Es macht dich gefährlich, zumal du bisher keine Gelegenheit gehabt hast zu üben, wie man diese Macht einsetzt.«
Ich seufzte und lehnte mich an seine Schulter. »Zuerst finde ich heraus, dass ich nicht nur Magiegeborene, sondern auch Cambyra-Fee bin. Dann erfahre ich, dass ich in einem früheren Leben Mysts Tochter gewesen bin und Obsidian meine mörderische Seite hervorbringt. Und nun sagst du mir, dass sich der Wind in meiner Seele eingenistet hat? Es kommt mir vor, als ob ich mich selbst verliere.«
»Nein, Tochter. Tatsächlich bist du gerade dabei, dich selbst zu finden. Du erfährst, wer du wirklich bist. Mit der Zeit wird alles ganz normal werden. Du entwickelst dich, Cicely, und zwar zu einer Kraft, die anders als alles ist, was ich je erlebt habe. In Gefahr bist du verwundbar, aber das Potenzial in dir ist erschreckend.« Er strich mir zart über die Schulter und küsste meinen Scheitel. »Wenn wir heute Abend zu Lannan gehen, um ihn zu beschützen, musst du sehr vorsichtig sein, falls du den Wind anrufen willst.«
»Beten wir, dass ich das nicht tun muss.« Nach einem Moment fügte ich hinzu: »Was ist mit den Dunklen Feen? Wenn Myst eine war und nun Königin des Indigo-Hofs ist, was war dann mit den anderen Dunklen? Gehören sie alle zum Indigo-Hof? Und ist dann Lainule Königin der Lichten Feen?«
Wrath schien meine Frage zu überraschen, aber als er mit mir die große Freitreppe hinaufstieg, versuchte er es mir zu erklären.
»Das Herrschaftsgebiet ist eingeteilt in Großhöfe und Niedere. Überall auf der Welt gibt es Feenköniginnen, und jede regiert über einen anderen Bereich. Lainule – und ich – sind Königin und König über ungefähr die Hälfte dieses Kontinents. Myst war nicht die Königin des Dunklen Hofs, als sie verwandelt wurde, aber sie tötete Tabera, die zu jener Zeit Regentin war, und nahm ihren Platz ein. Aber selbst wenn sie sich selbst Winterkönigin nennt, ist sie hier im Norden keinesfalls Königin von Eis und Schnee. Sie ist ein klassischer Emporkömmling.«
»Was also ist mit den Dunklen Feen unter der Herrschaft Taberas – so hieß sie doch, oder? – geschehen?«
»Myst hat sie in alle Winde verstreut. Die Wildling-Feen sind Überbleibsel, andere haben sich dem Hof von Schilf und Aue angeschlossen, obwohl sie sich nie richtig angepasst haben.« Wrath runzelte die Stirn und schien sich erst darüber schlüssig werden zu müssen, ob er mir etwas sagen sollte oder nicht.
»Und weiter?«, drängte ich. »Ich stamme von den Feen ab. Ich muss es wissen.«
»Das ist richtig.« Nach einem Moment hielt er inne und lehnte sich an das geschwungene Geländer. Ich setzte mich auf eine Stufe. »Das Gleichgewicht in dieser Gegend ist schon so lange gestört, dass Chaos Normalität geworden ist. Wie ich schon sagte: Als Myst wieder auftauchte, übernahm sie den Platz der Dunklen Königin – der Winterkönigin, die über das Chaos regiert.«
»Myst kommt mir nicht wie jemand vor, der gern teilt.«
»Nein, ist sie auch nicht. Myst will erobern. Und hier fällt es ihr leichter, Truppen zusammenzuziehen, weil sich die Großhöfe auf der anderen Seite der Welt befinden. Sommer und Winter sind Sonne und Mond, Tag und Nacht. Sie mögen sich nicht unbedingt, wissen aber sehr gut, wie wichtig es für beide Mächte ist, das natürliche Gleichgewicht beizubehalten.«
Ich nickte. Langsam verstand ich. »Aber warum haben die Großhöfe bisher nicht eingegriffen?«
»Es gibt vieles, das sich nicht in dieser Kürze erklären lässt. Sie sind alt, Cicely, und zwar auf eine Art, wie
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