Winters Herz: Roman (German Edition)
sehen, Gloria? Deine Hände auf das Buch legen? Klar willst du das.«
Er tänzelte zum Lesepult hinüber und griff nach dem Buch, das aufgeschlagen darauf lag. Es hat die ganze Zeit dort gelegen, dachte Cass . Für jedermann sichtbar. Genau wie das Fenster.
Remicks Gesicht verfinsterte sich. »Du glaubst doch wohl nicht, dass ich es verstecken würde? Hier ist es.« Der Foliant war in staubiges Leder gebunden und roch nach Tierhaut und Zeit. Remick pfiff tonlos vor sich hin, während er einen dünnen Finger über die aufgeschlagene Seite gleiten ließ. Er drehte den Band um, damit Cass die Eintragungen sehen konnte, aber die Unterschriften verschwammen vor ihren Augen. Sie suchte die Seite ab und fand dort Damons Namen, dunkelbraun. Sally. Myra. Obwohl sie das alles nicht sehen wollte, konnte sie ihre Augen nicht daran hindern, die Seite bis zur letzten Eintragung zu lesen.
Remick klappte das Buch mit einem leisen Knall zu.
»Alle drin«, sagte er, »alle unterzeichnet, gesiegelt und geweiht.« Sein Blick ging zu der Stelle hinüber, an der Cass einst gekniet hatte.
Die Kirche drehte sich um sie. Die Hand ihres Vaters, die auf ihrem Haar lag – war es überhaupt so gewesen? Vor ihrem inneren Auge stand eine Szene, in der sie ihre nach oben gedrehte Hand, klein und weiß, unter ein erhobenes Messer legte, auf dem Altar lag ein aufgeschlagenes Buch. Sie schüttelte den Kopf. So war es nicht gewesen. Ihr Vater war ein guter Mann gewesen, der sein Bestes getan hatte. Gloria, so hatte er sie genannt.
»Ganz recht.« Remick sprach ganz nah an ihrem Haar. »Er hat jeden deiner Gedanken beherrscht, nicht wahr? Er hat dich mir weggenommen. Er dachte, er könnte dich beschützen, dich dem anderen zuschanzen. Nun, ich will dir eines sagen, Cass: Man kann sich nur selbst verschenken.«
Cass griff nach dem Buch, spürte den abgenutzten Einband unter ihren Fingern, bevor er es wegzog.
»Du kannst es nicht rückgängig machen.«
Cass zwang sich dazu, sich hoch aufzurichten. »Du hast Wahnvorstellungen«, sagte sie. »Du bist verrückt, das ist alles.«
»Meinst du?« Er sah zu dem Kirchenfenster auf. »Ein einfaches Zeichen, nicht wahr, Cass? Jeder Besucher hätte es sehen können. Diese Kirche ist lange vor deiner Geburt erbaut worden. Für mein Alter habe ich mich nicht schlecht gehalten, stimmt’s?« Er grinste. »Ich bin noch ziemlich munter, findest du nicht auch?«
Cass sah erneut zu dem Fenster auf. Das musste ein Zufall sein; der Glaskünstler, von dem es stammte, konnte doch nicht allen Ernstes …
Sie sah der Jungfrau Maria ins Gesicht und merkte, dass Remicks Augen auf sie herabblickten.
»Siehst du«, flüsterte Remick, »du glaubst also doch.«
Sie erinnerte sich daran, wie dieses Gesicht ihres berührt hatte, wie seine Küsse auf ihrer Haut gewesen waren.
Remick lächelte, und Cass fühlte, wie ihre Nerven kribbelten. Ihr schauderte. Ich hab’s gewusst , dachte sie. Mein Körper hat es schon immer gewusst.
Sie erwiderte seinen Blick und sah in fürsorgliche, liebende Augen, die amüsiert blitzten. Sie schüttelte den Kopf. »Du kannst ihn nicht haben«, sagte sie. »Du kannst meinen Sohn nicht haben.«
Er lächelte, legte das Buch aufs Lesepult zurück.
»Ich verbrenne es!«
Er lachte. »Wirklich, Cass? Wir werden ja sehen. Natürlich steht auch alles in seiner Hand, nicht wahr? In seinem Herzen, in seinen Augen …«
»Nein.«
»Vielleicht solltest du jetzt lieber gehen, Cass. Auch du trägstdeine Bestimmung in dir. Gloria: zum Ruhme Gottes. Nun, du kannst deinen Sohn mitnehmen und gehen. Glorifiziere ihn.«
Cass starrte ihn an. »Sie werden dich abholen kommen«, sagte sie. »Ich erzähle ihnen alles. Ich habe die Leichen gefunden – Bert, Lucy.« Jess . Die Kleine war noch in Sallys Haus.
»Cassandra.« Er lächelte. »Welche Ironie des Schicksals, dass du diesen Namen trägst. Weißt du, wer sie war, Cass? Sie konnte wahrsagen, aber sie war dazu verdammt, nie Gehör zu finden. Komisch, dass du ihn für dich ausgesucht hast.«
»Ich heiße Cassidy.«
»Wie du möchtest.«
»Du kannst ihn nicht haben.« Cass merkte, dass ihr Tränen in die Augen stiegen. »Du musst ihn freigeben.«
»Du musst, du musst …«
»Bitte.«
»Ah, du bettelst – das mag ich. Das gefällt mir.«
Cass starrte ihn an. Im nächsten Augenblick fiel sie vor ihm auf die Knie. Der Steinboden war kalt, unnachgiebig.
Remick lächelte.
»Bitte. Ganz gleich, was du ihm angetan hast – was du
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