Winters Herz: Roman (German Edition)
nich’ mehr wegwoll’n, schätz ich.
Bert hatte sich in Bezug auf Ben getäuscht – und hatte doch recht gehabt. Ganz gleich, wie weit sie mit ihrem Sohn wegreiste, ein Teil seines Ichs würde in Darnshaw bei Sally und Damon und den Jungs bleiben. Sein Blick würde immer leer sein. Ein wichtiger Teil seines Ichs war fort, und sie würde es nie zurückholen können.
Außer sie unternahm etwas …
Jäh aufsteigende Hitze brannte in ihrer Brust, in ihrer Kehle. Sie würde etwas unternehmen – aber als Erstes musste sie das Buch mit eigenen Augen sehen, musste wissen, dass es wirklich existierte.
Sie weckte Ben nochmals, sah ihm ins Gesicht, als er sich aufsetzte, weil sie hoffte, dass es lebendig sein, dass die Augen wieder strahlen würden, aber sie waren weiter ausdruckslos, seelenlos . Sie sah weg, rieb sich über das Gesicht und sagte lächelnd: »Komm, beeil dich, Schatz. Wir haben etwas zu erledigen, und anschließend gehen wir weit fort von hier.«
Sie half ihm auf. Ben hing schlaff in ihren Händen, aber er blieb auf den Beinen. Er fragte auch nicht, warum er nicht in die Schule sollte. Er sagte überhaupt nichts.
»Ben, weißt du noch, wie’s war, bevor wir hierher gekommen sind? Du wolltest nicht umziehen. Erinnerst du dich?«
Er legte eine Hand auf ihre Schulter und stützte sich ab, als sie ihm die Hose anzog.
»Ben, weißt du noch …«
»Ich war nie woanders!«, stieß er plötzlich hervor. »Ich war immer hier, und du warst immer hier.«
»Ben?« Sie hob sein Gesicht mit zwei Fingern unter seinem Kinn hoch.
»Du warst hier«, sagte er und schob sie weg.
»Das stimmt nicht, Ben. Wir haben in Aldershot gewohnt, nicht wahr? Mit …« Es kam ihr grausam vor, ihn daran zu erinnern, aber es musste sein. »… mit Daddy.«
»Ich habe einen Daddy. Er ist hier. Er war schon immer hier. Mit dir.«
»Nun, ich habe eine Zeit lang hier gewohnt, Ben, als ich ein kleines Mädchen war. Aber das war mit meinem eigenen Daddy. Dann bin ich weggegangen und habe dich bekommen, was mich sehr glücklich gemacht hat.«
Ben verzog das Gesicht und schien Mühe zu haben, Tränen zurückzuhalten. »Ihn hat es auch glücklich gemacht«, sagte er, und von da an schwieg er hartnäckig, sosehr Cass ihm auch zusetzte.
Draußen tropfte es von allen Bäumen. Ihre Füße brachen durch weichen Schnee ein, unter dem Cass Wasser tröpfeln hörte. Sie blickte zu dem grauen Himmel auf. Heute war es eindeutig wärmer als gestern.
In den Fahrspuren auf der Straße liefen jetzt zwei Bäche. Es regnete nicht, aber als Cass und Ben ins Dorf gingen, platschten immer wieder große Wassertropfen von schmelzenden Eiszapfen herab. Alles schmolz.
Cass musste an ihren Traum denken: Remick, der mit nacktem Oberkörper auf dem Hügel stand und den fallenden Schnee mit erhobenen Armen begrüßte.
Der Kirchturm ragte bedrohlich auf, eine gen Himmel weisende Lanze, und sie erinnerte sich daran, wie sie sich vor ihm gefürchtet hatte, als sie dagestanden hatte, während ihr Vater ihr Kleid inspizierte, bevor er sie zum Altar geführt hatte.
Heute spürte sie nichts. Bei Tageslicht mochte sie kaum glauben, dass das Buch wirklich existierte oder dass ihre Erlebnisse real gewesen waren: die Gestalten im Moor, Sallys Drohungen. Nichts in ihrem Leben wirkte real – nicht mehr seit dem Augenblick, in dem sie erfahren hatte, ihr Ehemann werde nie mehr zurückkehren.
Sie blickte auf Ben hinab, zerzauste ihm liebevoll das Haar. Sein Blick war finsterer als je zuvor.
Bens Schritte wurden zögerlich, als sie ihn an dem alten Pfarrhaus vorbeiführte. Sie sah zu den Fenstern hinüber, erkannte ihr eigenes Spiegelbild in den Scheiben. Ob Remick zu Hause war? Vielleicht beobachtete er sie just in diesem Augenblick. Cass lief ein kalter Schauder über den Rücken, als Ben haltmachte und den Kirchturm anstarrte.
»Komm, Schatz.« Sie streckte ihm die Hand hin. »Ich kann dich nicht hier allein lassen. Ich muss nur etwas nachsehen, das ist alles.«
Er schluckte, und sein Blick verhärtete sich, aber im nächsten Augenblick nahm er ihre Hand. Cass spürte, wie kalt seine Haut war, und fuhr die Linie auf seiner Handfläche unwillkürlich mit einem Finger nach.
Ben blieb etwas zurück, als Cass die schmiedeeiserne Klinke der Kirchentür herunterdrückte, aber sobald sie die Tür aufstieß, duckte er sich unter ihrem Arm hindurch und flitzte ins Dunkel des Mittelschiffs. Sie schloss die Tür und hörte die Unterkante über die Steinplatten
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