Winters Herz: Roman (German Edition)
entlaufene Katze. Übungsabende der Musikkapelle. Buggy zu verkaufen. Sie trat ans Schaufenster, sah hinein und konnte erkennen, dass das Geschäft leer, das Licht ausgeschaltet und die Registrierkasse mit einer grünen Schutzhaube abgedeckt war. In den Warenregalen schien überhaupt nichts Essbares zurückgeblieben zu sein.
Im Dorf gab es einen kleinen Fleischerladen, Winthrop’s, der auch schon fast leergekauft war, aber der Fleischer wickelte ihr ein paar Sachen ein und packte sie in eine blau-weiß gestreifte Plastiktüte. Cass wusste kaum mehr, was sie dort eigentlich gekauft hatte.
Der Gemüseladen hatte ebenso vorzeitig Feierabend gemacht wie das Postamt. Das letzte Geschäft, der Blumenladen, nützte ihr nichts und war obendrein ebenfalls geschlossen. Vermutlich schon länger, denn die Plastikbuchsbäume im Schaufenster waren mit einer Staubschicht bedeckt. Cass starrte sie eine Zeit lang an, dann wandte sie sich ab. Sie konnte nicht mehr tun, als nach Hause zurückzugehen.
Als sie wieder vor der Mühle stand, wollte sie gerade nach dem Tastenfeld neben der Tür greifen, als sie mitten in der Bewegung erstarrte. Sie trat einen Schritt zurück, starrte das Türblatt an, streckte die Hand aus und berührte die rauen Kanten der tiefen Kratzer in dem neuen Lack.
Auf der Tür prangte ein Kreuz: Längs- und Querbalken mit mehreren kräftigen Schnitten tief ins Holz geritzt. Lack und Holzsplitter hafteten an der glatten Oberfläche. Cass fuhr mit dem Zeigefinger darüber, zog sich einen Splitter ein und steckte den Finger mit einem leisen Aufschrei in den Mund. Das Holz unter dem Lack war dunkel und feucht.
Ein Kreuz. Cass dachte an ihren Vater. Was er wohl dazu gesagt hätte?
Sie sah sich um. Sie war nicht lange fort gewesen; das Kreuz musste noch ziemlich frisch sein. Bestimmt waren das Kinder gewesen, die die Schule geschwänzt und dumme Streiche gespielt hatten. Cass spürte, wie Zorn sie überflutete. Wenn sie jetzt im Schnee herumlaufen konnten, hätten sie auch in die Schule gehen können.
Aber dies sah nicht nach einem Kinderstreich aus. Wieso hätten sie ein Kreuz wählen sollen?
Cass gab den Zugangscode ein, betrat das Foyer und überzeugte sich davon, dass das Türschloss einrastete. Sie sah durchs Glas hinaus. Draußen bewegte sich nichts. Im Schnee war ein Gewirr aus Spuren zu sehen, aber wer sie hinterlassen hatte, ließ sich unmöglich feststellen. Sie konnte nur ihre eigenen Fußabdrücke und die breite Spur identifizieren, die Ben auf dem Weg zur Schule hinterlassen hatte.
Sie dachte an die Wohnung unter ihnen, deren Trennwände nichts weiter als Holzgerüste waren und deren Fenster zu den Hügeln hinaus offen standen.
Als sie die Treppe hinaufging und den stillen Vorraum betrat, sah sie, dass ihr unbekannter Nachbar eine weitere Zeitung zugestellt bekommen hatte. Sie war verknittert, weil sie halb unter die erste geschoben worden war.
Die Einkaufstüten standen noch dort, wo Cass sie abgestellt hatte. Sie zog das Fleischpaket der Metzgerei hervor, das sich unangenehm weich anfühlte, und legte es in den Kühlschrank. Sie konnte sich nicht daran erinnern, was es enthielt, und wollte jetzt auch nicht nachsehen. Stattdessen ließ sie die übrigen Einkäufe liegen, ging in ihr Zimmer und zog eine Schachtel unter dem Bett hervor.
Sie hatte sich geschworen, das nicht zu tun, nicht jetzt, nicht wenn sie in einer neuen Wohnung allein war. Sie wollte ein neues Leben beginnen, etwas Neues aufbauen, und Ben gewöhnte sich bereits ein, schien Freundschaften zu schließen. Und doch … Er bleibt mein Daddy, hatte ihr Sohn gesagt.
Cass stellte die Schachtel aufs Bett und nahm den Deckel ab. Pete blieb Bens Daddy, blieb ihr Ehemann. War ihr Ehemann. In der Schachtel lag ein Bündel Briefe. Cass blätterte darin und hielt inne, als sie auf ein Foto stieß, das sein vertrautes Gesicht zeigte. Sein aschblondes Haar hatte fast dieselbe Farbe wie seineUniform, das Zelt hinter ihm und der Boden, auf dem es stand. Alles war sepiabraun. Sie fuhr mit einer Fingerspitze über die Oberfläche und erwartete fast, den rauen Sand zu spüren.
Sie blätterte die Briefe auf dünnem Luftpostpapier durch, las hier und da einige Zeilen.
Wir versuchen dem Chaos mit albernen Zeichnungen Herr zu werden. Komisch, wie sehr sie Kinderzeichnungen gleichen. Ich wünschte, ich könnte ihn jetzt sehen. Ihr fehlt mir schrecklich.
Cass erinnerte sich an den Tag, an dem dieser Brief gekommen war. Ben und sie hatten Bilder von
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