Winters Herz: Roman (German Edition)
…«
Als sie sich umdrehte, war Ben nicht da. Er war weit hinter ihr, steckte viel tiefer im Schnee als sie, kam fast nicht voran. Cass legte die Hände an den Mund und rief: »Ben, komm jetzt!« Dann wartete sie an die Mauer gelehnt, bis er zu ihr aufgeschlossen hatte.
Als er endlich heran war, stieß er einen gewaltigen Seufzer aus.
»Alles wäre leichter, wenn du aufhören würdest herumzualbern.«
»Alles wäre leichter, wenn ich nicht hier wäre.«
»Sei nicht so neunmalklug.« Cass legte eine Hand auf seinen Rücken, schob ihn vorwärts, aber er schwenkte die Arme und schüttelte sie ab. »Gut, dann geh eben allein. Ich habe deine Faxen satt. Geh jetzt voraus.«
Ben stapfte dahin, hatte die Hände in die Jackenärmel gezogen und schlug damit wie mit Flügeln, aber Cass war das egal, solange er sich nur bewegte. Die Luft wurde noch kälter, und nun setzte auch noch leichtes Schneetreiben ein, bei dem winzige Flocken wie Nebelschleier über die Hänge zogen. Als Ben dort hineingeriet, wurde seine rote Jacke allmählich unsichtbar.
Cass hastete hinter ihm her. Wieso ist er plötzlich so schnell? Sie konnte sehen, wie seine kurzen Beine bis zu den Knien im Schnee versanken – und trotzdem vergrößerte er seinen Vorsprung noch. Jetzt kam zu allem Überfluss Wind auf, der über den Hügel pfiff und um die Steine heulte. Er trieb Schnee vor sich her und nahm Cass die Sicht. Sie hatte das Gefühl, Ben werde vom Schneetreiben verschluckt.
Sie beeilte sich noch mehr, versuchte ihn einzuholen und rutschte plötzlich aus. Als sie den Sturz abfangen wollte, versank ihr ausgestreckter Arm bis zur Schulter in einer Schneewehe. Sie befreite sich prustend daraus. Der Weg vor ihr war noch erkennbar, aber Bens Fußabdrücke waren bereits verweht.
Seine kleine Gestalt tauchte für einen Augenblick zwischen den Steinen auf und verschwand dann.
Cass rief seinen Namen. Der Wind frischte auf, und grobkörnige Schneekristalle ließen ihre Haut brennen. Sie hielt sich mit einer Hand ihren Schal vors Gesicht, streckte die andere aus, um das Gleichgewicht zu bewahren. »Ben!«
Er kam nicht zurück, und sie hörte ihn auch nicht rufen. Sie senkte des Windes wegen den Kopf und stapfte hinter ihrem Sohn her. Als sie zum nächsten Mal aufsah, fand sie sich zu ihrer Überraschung schon zwischen den Steinen wieder.
Aus der Nähe betrachtet erinnerten sie Cass an Grabsteine, flach und breit, ihre Oberflächen pockennarbig. Die dünne Schneeschicht, die sie bedeckte, ließ Wirbel und andere schwach hervortretende Muster erkennen. Alle Steine waren stark verwittert, und einer war mit der Zeit so erodiert, dass in seiner Mitte ein unregelmäßiges Loch entstanden war.
Ein weiterer Stein lag umgestürzt im Schnee, der seine Umrisse verwischte. Er erinnerte Cass an den mit weißem Leinen bedeckten Kirchenaltar. Sie blinzelte. Auf dem Tuch – nein, auf dem Schnee – lag ihr Sohn.
Sie lief zu ihm, zog ihn hoch und legte ihm einen Arm um die Schultern. Sie schüttelte ihn; er war kraftlos schlaff. Schnee bedeckte seine Wangen, hatte sich in den feinen Wimpern festgesetzt, und Cass wischte ihn weg. »Ben, alles in Ordnung mit dir?«
Er schlug die Augen auf. Sie glühten über seinen geröteten Wangen, und Cass glaubte die Hitze zu spüren, die Ben ausstrahlte.
»Scheiß auf dich«, sagte er. »Scheiß auf dich.«
Cass fuhr zusammen; ihr um seine Schultern gelegter Arm zuckte.
Ben spitzte die Lippen und spuckte ihr einen dünnen, warmen Speichelstrahl ins Gesicht. »Er lässt dich nicht«, sagte ihr Sohn mit so hochgezogenen Lippen, dass sie sein rosa Zahnfleisch sehen konnte. »Ich gehe nicht. Ich tu’s nicht.«
»Ben, was hast du?« Ihr brach die Stimme. Ein Zeichen von Schwäche, aber das war ihr egal, sie kannte diesen wilden, zornigen Jungen nicht. Er ist nur ein Kind, dachte sie. Wie kann er solche Dinge sagen? Und wie konnte sie vor ihrem eigenen Fleisch und Blut zurückweichen? Sie erinnerte sich daran, wie sie ihn als Baby in den Armen gehalten und gewiegt hatte. Das tat sie auch jetzt. »Nicht, Ben. Alles ist gut. Wir bleiben eine Zeit lang sitzen und essen unser Picknick, und dann gehen wir von hier fort und kommen nie mehr zurück. Wir gehen weit, weit weg …«
Er hob ruckartig den Kopf. Was hatte sie gesagt? Sie hatte ihn nur beruhigen wollen, war sich kaum bewusst, welche Worte sie gesprochen hatte.
»Nein«, rief er strampelnd und um sich schlagend. » Neinneinneinnein …«
Cass ließ nicht
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