Winters Herz: Roman (German Edition)
ließen sie immer wieder ausrutschen. Ihr Rucksack begann zur Last zu werden. Sie trug ihre eigene Kleidung, die Hälfte von Bens Sachen, die Thermosflasche, ein paar Sandwichs und die Projekt- CD .
Vielleicht hätte sie doch lieber der Straße folgen sollen. Dort wäre der Untergrund glatt gewesen, nicht uneben wie hier. Aber wenn sie jetzt sagte, sie müssten umkehren … Cass seufzte bei dem Gedanken an Bens Reaktion. Er blieb schon wieder zurück, schlurfte träge hinter ihr her. Da war es besser, weiterzugehen und abzuwarten, wie der Weg hinter dem Gehöft aussah.
»Ben, trödel nicht so«, sagte Cass, als sie den Hof der Farm erreichten. Hier roch es nicht besonders gut, und irgendwo kläffte ein Hund. Das Areal war von niedrigen Holzbauten – Stallungen – umgeben, deren Tore alle geschlossen waren.
Ben blieb stehen, verzog angewidert das Gesicht. »Hier stinkt’s.«
»Das stimmt nicht. Komm, Ben, ich schau mal, wo der Weg weitergeht. Mal sehen, wer von uns zuerst dort ist!«
Cass ging an den leeren schwarzen Fenstern in der Rückwand des Wohnhauses vorbei. Aus einer Lüftungsöffnung stieg Dampf auf, aber sonst gab es nirgends ein Lebenszeichen.
Der Weg führte der Linie der Feldsteinmauer folgend vom Haus fort und auf ein weites weißes Feld hinaus. Cass hatte das Gefühl, das Dorf erst jetzt wirklich zu verlassen, seiner Anziehungskraft zu entfliehen, und ihre Stimmung hob sich, obwohl sie hörte, wie Ben hinter ihr missmutig Schneewolken hochkickte. Sie machte lange Schritte und spürte ein Ziehen in ihren Wadenmuskeln, als der Weg steiler wurde. Die Luft hier schien reiner, kälter zu werden, brannte an den Ohren und in der Nase. Dann begannen ihre Augen zu tränen, und die salzige Flüssigkeit verursachte ein irritierendes Stechen auf ihrer Bindehaut. Sie rieb sich die Augen, schniefte und hastete weiter.
Als Cass sich umdrehte, war Ben eine kleine Gestalt, die knietief im Schnee stand. Er hatte aufgehört, Schneewolken hochzukicken.
Die Straße wäre so viel einfacher gewesen.
Cass wartete an die Feldsteinmauer gelehnt und wühlte in ihrem Rucksack. Als Ben sie erreichte, drückte sie ihm einen Schokoriegel in die Hand. Schweigend starrte er ihn an. Er hatte eine rote Nase und gerötete Backen. Cass zog ihm die Mütze über die Ohren und hörte ihn scharf Luft holen, als sie sie berührte. »Sorry, Ben. Alles in Ordnung? Das ist eine Schinderei, was?«
Er riss die Verpackung des Schokoriegels mit den Zähnen auf und spuckte den abgerissenen Fetzen aus.
»Ben, heb das auf.«
Da holte er mit dem Fuß aus, kickte den Schnee so hoch in die Luft, dass er gegen Cass’ Jacke spritzte und im Fallen das Stück Verpackungsfolie bedeckte.
»Du weißt, dass du das nicht liegen lassen darfst. Was ist, wenn der Schnee schmilzt? Dann sieht’s hässlich aus.«
»Der schmilzt nie mehr. Der bleibt ewig da – und du auch, wir beide auch.«
Sie rang sich ein Lachen ab. »Was soll das heißen? Natürlich schmilzt er. Und wir gehen, wohin wir wollen, nicht wahr? Und genau das tun wir jetzt auch.« Cass verstummte abrupt. Ihre Stimme klang in ihren eigenen Ohren hohl.
Anscheinend lief sie Gefahr durchzudrehen. Vermutlich eine Nachwirkung dieser letzten Tage, sonst nichts. Des ungewohnten Gefühls, eingeschneit zu sein. Sie hatte zu fürchten begonnen, nie mehr aus diesem Talkessel heraus und über die Hügel in eine Gegend zu gelangen, in der Telefone funktionierten und die Straßen frei waren.
Ben biss ab und kaute, schluckte, biss nochmals ab.
Cass seufzte, scharrte im Schnee und hob die Verpackungsfolie selbst auf. »Komm jetzt. Bis wir oben sind, dauert’s nicht mehr lange. Ab dann geht’s bergab.«
Sie erinnerte sich an das merkwürdige Erlebnis auf der Fahrt hierher, als ihr Wagen auf einer Gefällestrecke zurückgerollt war, als schiebe sie jemand weg. Aber das schien ewig lange her zu sein.
Sie senkte die Stimme. »Komm jetzt, Schatz. Wir müssen uns beeilen.«
Ben seufzte. Er balancierte auf einem Bein, hob den anderen Fuß und schüttelte Schnee von seinem Stiefel. Cass lachte übermäßig laut. »So ist’s richtig! Mal sehen, ob wir diese stehenden Steine finden können.«
Allerdings hätte sich Cass darüber keine Sorgen zu machen brauchen. Sie sah die Steine, sobald sie die Mauer erreichte, die den oberen Feldrand begrenzte. Sie waren groß und schwarz, ragten aus ihrer schneeweißen Umgebung auf wie auf dem Hügel stehende Wachposten.
»Ben, siehst du diese
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