Winters Herz: Roman (German Edition)
sich gelöst, und seine Haltung wirkte locker, entspannt.
Cass strich sich das Haar aus der Stirn und dachte daran, wie Remick es berührt hatte: wie etwas, das ihm gehörte und für das er im Augenblick keine Verwendung hatte. Du wirst zu mir kommen. Ihr lief ein kalter Schauder über den Rücken. Und diese Dinge, die Ben gesagt hatte; sie wünschte sich, sie könnte ihn im Haus halten und sein Spiel spielen lassen, ohne dass er Kontakt mit den anderen Jungen oder Sally oder Remick hatte, wenn dieser Umgang ihn dazu brachte, solche Dinge zu sagen. Vielleicht würde sie ihn morgen nicht in die Schule schicken.
Hinter ihren Augen setzten Kopfschmerzen ein. Sie runzelte die Stirn. Schickte sie Ben morgen nicht in die Schule, würde es trotzdem noch ein Übermorgen und die Tage danach geben. Und Ben hatte seinen Lehrer gern.
Cass wünschte sich plötzlich, Bert wäre da, damit sie ihn nach alldem fragen konnte – oder Lucy. Sie hätte sich mehr Mühe geben sollen, einige der anderen Mütter kennenzulernen, aber sie hatte eigentlich nur mit Lucy gesprochen, die jetzt unerreichbar war. Und Bert hätte vielleicht gewusst, was das Kreuz an der Tür, der Knochenkreis am Flussufer und die mit blutigem Eigelb beschmierte Stoffpuppe zu bedeuten hatten. Hatte Bert das Zeichen an der Mühlentür gesehen? Hatte er sie deshalb ermahnt, vorsichtig zu sein?
Dabei musste sie an die leere Wohnung unter ihr denken. Vielleicht war in diesem Augenblick jemand dort unten, sah zur Decke auf. Cass schüttelte sich innerlich. Sie beobachteteihren Sohn. Der sanfte Schwung seines Nackens unter dem blonden Haarflaum wirkte unschuldig, verwundbar. Er saß ganz still da.
Cass sah zur Wohnungstür hinüber. Der Schlüssel steckte. Sie würde nicht lange fort sein; sie würde ihn einsperren, damit er in Sicherheit war. »Ben«, sagte sie laut. »Ich gehe zehn Minuten weg. Bloß rasch nach unten, okay?«
Er gab keine Antwort.
»Ben?«
Eine leichte Kopfbewegung, ein Schulterzucken. Das würde genügen müssen. Cass ging in die Küche und nahm ihre Stablampe aus dem Regal. Als sie nach Ben sah, hatte er sich nicht im Geringsten bewegt. Sie verließ die Wohnung, zog die Tür hinter sich zu, sperrte sie ab. Sie fuhr leicht zusammen, als die Beleuchtung aufflammte, und hastete durch den Vorraum zur Treppe.
Ihre Schritte hallten auf den Steinplatten, dann wurden sie von dem roten Teppichboden im Erdgeschoss gedämpft. Die Tür von Apartment 6 war geschlossen. Hatte sie selbst sie ins Schloss gezogen? Das wusste sie nicht mehr. Sie erinnerte sich nur an ein Gefühl des Abscheus, mit dem sie die mit Staub bedeckte Puppe berührt und die dickflüssige Masse darunter gespürt hatte.
Abscheu wie vor Theo Remick.
Sie legte eine Hand auf die Türklinke. Vielleicht war jemand dort drinnen, aber die Wohnung fühlte sich nicht so an. Sie fühlte sich ebenso leer an wie der Rest der Mühle. Wie auch ihr eigenes Apartment.
Cass öffnete die Tür und erblickte das Skelett einer unfertigen Wohnung und reflektiertes Mondlicht auf dem Schnee vor dem Fenster. Sie wusste nicht, was sie zu finden erwartet hatte. Die Wohnung war leer. Staub bedeckte den Fußboden, war an einigen Stellen von Bens und ihren Schritten oder vorbeihuschenden Ratten aufgewirbelt worden. Nichts wies darauf hin, dassaußer ihnen noch jemand hier gewesen war. Sogar die Ratten waren verschwunden.
Vielleicht hat sie niemand gerufen.
Sie blinzelte, hob ihre Stablampe, schaltete sie ein.
Die Stoffpuppe lag noch dort, wo Cass sie hingeworfen hatte. Ihr halber Körper fehlte, war abgenagt, sodass herausstehende Fäden wie Haare aus einem Loch in ihrer Brust ragten. Die Jungenpuppe war halb im Staub begraben. Cass bückte sich, stellte angewidert fest, dass sie mit Rattenkot bedeckt war, und richtete sich auf, ohne sie anzufassen.
Sie wusste nicht, weshalb sie hergekommen war. Hier gab es nichts, hatte es vermutlich nie etwas gegeben, nur Kinder, die dumme Streiche machten, und auch das konnte schon lange zurückliegen – in der Zeit, als hier noch gebaut worden war, oder noch länger.
Trotzdem hatte sie das Gefühl, hier gebe es etwas, das sie wissen oder sehen müsse. Cass trat ans Fenster, spürte den Frosthauch der kalten Luft auf ihrem Gesicht und richtete den Strahl der Stablampe nach draußen. Auf der Schneedecke zeichnete sich ein bläulich weißer Lichtkegel ab. Irgendwo schrie eine Eule. Vielleicht jagte sie Ratten. Cass wünschte ihr stumm viel Erfolg.
Als sie sich
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