Winters Herz: Roman (German Edition)
umdrehte, fiel der Lichtstrahl auf ein fast im Staub vergrabenes helles Dreieck. Cass beugte sich darüber, beleuchtete es besser und erkannte ein Stück Papier. Sie hob es auf und schüttelte den Staub ab. Eine Kante des Blatts war angefressen.
Cass, habe Ihre Dateien erhalten. Sieht schon besser aus. Wir starten in einigen Tagen. Ich brauche noch einige Korrekturen – siehe Anlage. Oder muss ich mich deswegen nach jemand anderem umsehen? Rufen Sie mich bitte dringend an, vielleicht finden wir gemeinsam eine Lösung.
Cass starrte den Ausdruck an. Er trug keine Unterschrift; das fiel ihr als Erstes auf, während sie blinzelnd dastand. Die E-Mail war nicht unterschrieben. Nachdem sie sich solche Mühe gegeben hatte, war ihr Kunde so aufgebracht, dass er nicht einmal seinen Namen getippt hatte. Und sie hatte keine Möglichkeit, ihn zu erreichen. Das konnte sie nur, wenn sie Darnshaw verließ. Stattdessen hatte sie sich auf allen Seiten einengen lassen, nicht nur von dem Schnee, sondern auch von Remick, von einfach allem.
Ihr war vage bewusst, dass sie diese Dinge nur dachte, um die wirklichen Fragen zu meiden, die sich ihrem Unterbewusstsein aufdrängten. Wie kam diese E-Mail hierher? Hatte Lucy sie mitgebracht, als sie hergekommen war, um Cass zu helfen, obwohl Ben Jessica wehgetan hatte? Oder hatte jemand anderer sie hier zurückgelassen? Und am wichtigsten: Was war Lucy zugestoßen, falls sie hergekommen war, um Cass aufzusuchen?
Die Anlage, dachte sie.
Sie leuchtete mit der Stablampe umher, bis sie ein weiteres Stück Papier sah. Es war zusammengeknüllt und unter den Holzrahmen gestopft worden, der eines Tages eine Trennwand aus Gipskartonplatten tragen würde. Dort wurde es durch herabhängende Kabel fast verdeckt.
Cass angelte das Stück Papier heraus und hörte es einreißen, als sie zu kräftig daran zog. Sie strich es glatt. Dies war nicht die von dem Kunden erwähnte Anlage, sondern etwas, das wie eine Fotokopie eines alten Zeitungsartikels aussah. Oben war ein Schwarz-Weiß-Foto abgebildet, das Frauen mit altmodischen Hauben und Kinder in groben Kitteln zeigte. Sie standen vor der Foxdene Mill.
Wo diese Fotokopie herkam, blieb unerklärlich, aber Cass glaubte, wieder Lucys Stimme zu hören: Ich würde sie gern mal besichtigen. Ich habe ein Faible für Geschichte, bin aber noch nie in der Mühle gewesen – eigentlich komisch, wo ich ständig daran vorbeifahre.
Ständig. Und Lucy war zur Foxdene Mill gefahren, hatte diese Fotokopie mitgebracht. Cass hielt sie ins Licht ihrer Stablampe, um die verwischte Schlagzeile lesen zu können: VERMISSTES KIND IN DER FOXDENE MILL AUFGEFUNDEN .
Sie überflog die Seite. »Zu den hässlichsten Episoden der Geschichte Darnshaws gehört …« Also ein heutiger Bericht, kein zeitgenössischer.
Ein Kind wurde tot aufgefunden, anscheinend das Opfer eines Ritualmords. Ein Mädchen von sechs bis sieben Jahren mit durchschnittener Kehle und weiteren Spuren am ganzen Körper.
Weitere Spuren. Etwa ein Schnitt quer über die Handfläche? Nähere Angaben dazu fehlten.
Ihre Leiche wurde im Erdgeschoss unter zur Verschrottung bestimmten Maschinenteilen entdeckt. Da bis zu ihrer Auffindung einige Zeit verstrichen war, hatten Schädlinge den Körper angefressen, sodass eine Identifizierung schwierig war .
Schädlinge. Cass sah sich um und erkannte überall Rattenspuren im Staub. Ihre Hand umklammerte die Stablampe fester. Sie beugte sich nach vorn, hielt die Fotokopie an ihre Brust gepresst und übergab sich, bis ihr Magen leer war. Als sie nichts mehr heraufwürgen konnte, sah sie sich verlegen um, fast als rechne sie damit, belauscht worden zu sein.
Die Mühle war seit Jahren außer Betrieb – wenigstens aus Sicht der Eigentümer. Es gab jedoch Anzeichen dafür, dass dort Aktivitäten stattfanden, die manche für Hexerei, andere für Besessenheit hielten. Vermutlich wussten viele Dorfbewohner davon, denn um die Mühle und ihre Umgebung rankten sich abergläubische Spekulationen.
Von den frevelhaft verwendeten Symbolen, die dort entdeckt wurden, scheinen einige den Zweck gehabt zu haben, die Mühle zurückzugewinnen oder wenigstens zu schützen, denn in ihre Tür waren auch christliche Kreuze eingeschnitten worden.
Cass öffnete den Mund, machte ihn wieder zu. Sie hatte densauren Geschmack von Erbrochenem auf den Lippen. Sie beugte sich nach vorn und spuckte aus, stellte sich dabei vor, wie eine Ratte den Speichel aufleckte, und musste erneut würgen.
Ein
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