Winters Herz: Roman (German Edition)
Kreuz an der Tür: kein bedrohliches Graffito, sondern ein schützendes Symbol. Sie erinnerte sich an eine Tür mit abblätternder schwarzer Farbe, unter der ein weiteres Kreuz ins Holz geschnitten war. Bert, der auf seinen Spaziergängen täglich an der Mühle vorbeikam. Cass hatte auf Jugendliche getippt, aber sie hatte immer nur Bert in der Umgebung der Mühle gesehen.
Sie schüttelte den Kopf. Lächerlich . Bert war zu alt für Graffiti.
Die auf seinem Nachttisch liegende Bibel. Das Kreuz an seiner Haustür.
Und hier in der Mühle war ein unschuldiges Kind ermordet worden. Zu welchem Zweck? Cass starrte zu Boden. Der Ritualmord war in diesem Raum geschehen; das wusste sie, das konnte sie spüren. Sie konnte die durch Staub und Zeit trüb gewordenen blonden Locken fast vor sich sehen. Niemand hatte die Kleine gesehen, und niemand hätte sie gefunden – wenn die Ratten nicht gewesen wären. Das arme Kind war allein gewesen. Dieser Aspekt schmerzte am meisten: Sie hatten die Kleine ermordet und sie allein zurückgelassen: im Dunkel, in diesem leeren Raum, vielleicht gerade dort, wo Cass jetzt stand. Sie wich zurück, starrte in die Schatten und erwartete fast, eine Kindergestalt werde sich aufrichten und sehnsüchtig die Arme recken, um sich ein letztes Mal umfangen zu lassen.
Und hatte Lucy nicht davon gesprochen, Kinder hätten die Opfer gebracht? Cass schloss die Augen, glaubte fast, näher kommende Schritte zu hören. Sie fuhr zusammen und dachte an Ben, der oben in der Wohnung allein war. Wie lange war sie schon hier? Ihr Sohn war allein . Vielleicht suchte er sie, hatte vielleicht Angst.
Die Nacht draußen war dunkler geworden, der Raum hattesich zu einem schmalen Lichtstrahl auf einem verknitterten Blatt Papier verengt. Als Cass aus dem Fenster sah, herrschte wieder Schneetreiben. Kälte sickerte in die Mühle und legte sich auf ihre Haut.
Kapitel 26
Cass schreckte im Bett hoch, riss die Augen auf. Die Dunkelheit in ihrem Zimmer besaß eine seltsame Qualität, die sie nicht einordnen konnte. Sie stand auf und trat barfuß ans Fenster.
Schneeflocken tanzten in der Luft, wurden von dem böigen Wind verwirbelt. Große dicke Flocken schwebten von dem nachtschwarzen Himmel herab, blieben liegen und überzogen die Schneedecke mit einem weißen Flaum. Der Neuschnee bedeckte alles, verwischte alle Kontraste.
Cass hielt den Atem an. Draußen auf dem Hang stand eine Gestalt. Flocken fielen und schmolzen auf Armen und Gesicht und Oberkörper, der nackt war, sodass die scheinbar dunkel unterlegten Rippen deutlich hervortraten. Sie kannte diesen Körper, hatte ihn mit den Händen erforscht, hatte ihn an sich gedrückt. Hatte im Dunkel seinen Namen gerufen: Theodore Remick.
Während sie ihn beobachtete, streckte er die Arme in die Höhe, warf den Kopf in den Nacken und verschlang den Himmel, den Schnee, die Nachtluft, alles. Seine Augen leuchteten weiß.
Er wandte sich mit offenem Mund ihrem Fenster zu, und sie erkannte sein Grinsen, das Aufblitzen seiner Zähne. Sie holte erschrocken tief Luft, wandte sich ab und schlug die Hände vors Gesicht.
Als sie wieder aus dem Fenster sah, war Remick verschwunden. Cass suchte seine Spuren im Schnee, aber dort waren keine zu entdecken. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, und in ihrer Verwirrung fiel ihr eine merkwürdige Äußerung Berts ein: Es schneit immer so stark, wenn er’s will.
Sie hatte geglaubt, er meine Gott, als er das gesagt hatte. Es hatte genau wie etwas geklungen, das ein alter Mann sagen würde, das ihr Vater hätte sagen können, aber jetzt war sie nicht mehr ganz überzeugt davon.
Nach einiger Zeit schlief Cass wieder ein. Und sie war sich nicht sicher, ob die Dinge, die sie sah, wirklich nur Träume waren.
Kapitel 27
Am folgenden Morgen zog Cass den Reißverschluss von Bens Jacke hoch und hielt ihn am Kragen fest, während sie vor ihm kniete. »Ben«, sagte sie, »wir müssen etwas besprechen.«
Sein Blick war klarer als am Tag zuvor. Er wirkte weniger verwirrt, nicht so zornig. Wie er so vor ihr stand, war er wieder ihr kleiner Junge. Cass machte eine Pause. Fehlte ihm wirklich nichts? Sie traute ihren eigenen Augen nicht mehr. Letzte Nacht hatte sie sich eingebildet, Theo Remick halbnackt vor ihrem Fenster im Schnee stehen zu sehen. Das war natürlich ein Trugbild gewesen, aber es hatte auch nicht völlig irreal gewirkt.
Ohne viel darüber nachzudenken, ergriff sie Bens Hand und drehte sie nach oben. Die Haut war unverletzt, durch
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