Winters Herz: Roman (German Edition)
hinauf, ohne das Licht einzuschalten. Cass folgte ihr, tastete sich im Halbdunkel am Geländer entlang nach oben.
Irene blieb auf dem oberen Treppenabsatz stehen. »Aha«, sagte sie, »er hat Captain also doch mitgenommen. Sonst begrüßt sein Hund mich immer schon hier.« Sie ging ins Wohnzimmer voraus. Cass folgte ihr und sah hinter alle Sessel, um sich zu vergewissern, dass dort niemand lag. Die Luft war abgestanden, und Berts alte Jacke, auf der Captain schlief, roch muffig.
Die winzige Küche war mit klapprigen Möbeln eingerichtet,deren abblätternde Resopalbeschichtung an einigen Stellen mit Klebeband befestigt war. Auf dem Klapptisch, vor dem ein einzelner Stuhl stand, lagen Brotkrümel. Nirgends eine Spur von Captain.
»Sehen Sie«, sagte Irene, »die beiden sind eben unzertrennlich.«
Sie drängte sich an Cass vorbei, um wieder auf den Treppenabsatz zu gelangen. Jetzt war nur noch ein Zimmer übrig, und Cass zögerte, es zu betreten. Irene hatte jedoch keine Bedenken. »Werfen Sie ruhig einen Blick hinein, Schätzchen. Damit Sie beruhigt sein können.« Sie machte eine einladende Handbewegung, bei der Cass etwas Seltsames auffiel. Aber sie schüttelte den Kopf und verdrängte diesen Gedanken wieder; er konnte warten. Sie folgte Irene in Berts Schlafzimmer.
Der Überwurf auf dem Bett war eine nachlässig glatt gezogene Häkeldecke im selben Blassrosa wie die Vorhänge. Die Tapete trug ein knalliges Rosenmuster. Auf dem Nachttisch lag eine Bibel. Bert hatte einige Kleidungsstücke auf dem Bett liegen lassen: ein beigefarbenes Hemd, zusammengerollte braune Socken, einen grauen, ziemlich ausgebleichten Overall. Cass sah weg.
»Er hat ein paar Sachen zusammengesucht, bevor er losgezogen ist«, sagte Irene. »Sehen Sie? Anscheinend wollte er eine Zeit lang wegbleiben. Und für den Fall vorsorgen, dass er drüben in Moorfoot festsitzt. Sieht so aus, als würd’s bald wieder schneien.« Sie schnüffelte, als könne sie den Schnee wittern, und verzog das Gesicht. »Hier könnte er auch mal wieder putzen. Kommen Sie, Schätzchen. Na, sind Sie zufrieden?«
Cass nickte und war erleichtert, von diesen privaten Dingen wegzukommen. Sie ging vor Irene die Treppe hinunter. Im Halbdunkel wirkte sie noch steiler. Sie hielt sich am Geländer fest und ging seitlich, wie Bert es getan hatte. Vielleicht war der Alte nicht gebrechlich, sondern nur vorsichtig gewesen.
Irgendwo hinter der Wand war ein raues Kläffen zu hören.
»Das ist der Hund der Turnbulls«, sagte Irene. »Die wohnen nebenan. Vielleicht haben Sie ihn vorhin bellen gehört, Schätzchen.«
»So muss es wohl gewesen sein.« Cass wartete, während Irene die leicht klemmende Tür mir geübtem Schwung schloss. »Vielen Dank, Irene. Sie halten mich bestimmt für verrückt.«
»Natürlich nicht«, sagte sie und legte Cass eine Hand auf den Arm. »Durchaus nicht. Nein, Sie haben sich nur nachbarschaftlich verhalten, und das tun wir hier alle. Nachbarschaftlich. Typisch für uns, wissen Sie. Sehr freundlich von Ihnen.« Sie nickte nachdrücklich. »Sehr freundlich.«
Irene ließ den Arm los, wandte sich ab, ging ins Postamt zurück und ließ Cass auf der Straße stehen.
Cass holte tief Luft, atmete langsam aus, sah zu, wie die Atemwolke sich auflöste, rieb sich die Hände und spürte ihre Finger kribbeln. Sie fühlte sich wärmer, war zum erste Mal an diesem Tag wieder sie selbst. War ihr deshalb bei Theo so merkwürdig zumute gewesen? Aus Sorge um Bert, den sie nicht hätte gehen lassen dürfen? Und dabei war Bert die ganze Zeit mit Captain an seiner Seite in Moorfoot in Sicherheit gewesen. Sie nahm sich vor, ihn auf seine runzlige Wange zu küssen, wenn sie sich wiedersahen.
Im Vorbeigehen winkte Cass zum Fenster des Postamts hinauf, aber dahinter war es finster, sodass sie nur ihr eigenes Spiegelbild sah. Ihr Haar war leicht zerzaust, ihr Blick unkonzentriert. Und dann fiel ihr wieder ein, was ihr in der Wohnung seltsam vorgekommen war.
Als Irene sie mit einer Handbewegung aufgefordert hatte, Berts Schlafzimmer zu betreten, hatte Cass gesehen, dass sich eine rote Linie über ihre Handfläche zog. Genau wie bei Damon. Und wie bei diesem anderen Jungen … James.
Kapitel 24
Cass erreichte die Schule, bevor die Türen aufgingen. Sie blieb stehen und horchte auf den nach außen dringenden Gesang: eine schwerfällige, langsame Melodie, zu der rhythmisch geklatscht wurde. Dann war das Scharren von Stühlen zu hören.
Sie wusste nicht, was sie zu Theo
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