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Winters Knochen

Winters Knochen

Titel: Winters Knochen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: D Woodrell
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man aber schon seit Generationen weiß, dass sie hier hausen. Der Taumelvogel, ein fröhliches, gefiedertes Rätsel, das nur darauf wartet, aus brütenden Schatten zum Leben zu erwachen, schnell wie ein Gedankenblitz loszuzischen und rückwärts wie eine Frage über den Himmel zu fliegen, oder der Galoopus, der womöglich tief unten in deinem Brunnen nistet und im Wassereimer makellos quadratische Eier aus hartem, gelbem Karamell legt, oder eben auch der spöttisch-schaurige Bingbuffer, der in der tiefsten Finsternis stürmischer Nächte heranschleicht, mit seinem riesigen, mit Scharnieren versehenen Schwanz wedelt und Steine aufs Haus krachen lässt, während man sich die Decke über den Kopf zieht und auf die Sonne wartet. Moms Worte waren kitzlig, und ihre nahen Atemzüge hatten Ree besänftigt.
    Auf der Anhöhe durchwanderten sie vorsichtig die Wälder der Bromonts. Ree hakte sich bei Mom unter und leitete sie zwischen riesigen Bäumen hindurch, wobei sie vorsichtig über dicke Wurzeln und Eisflächen hinwegschritt. Sie hielten sich am Rand der Kuppe, konnten weit entfernte Flecken im Tal sehen, während schwere Bäume ihnen über die Schultern schauten. Ein Krähenschwarm saß oben auf den höchsten Ästen und schwatzte, als die Frauen unter ihnen durchkamen. An manchen Stellen bestand die Kuppe aus blanken Felsplatten, die noch zu rutschig waren, um sie zu überqueren. Ree ging zwischen den grauen Platten hindurch und drückte mit dem Arm, um Mom in die eine oder andere Richtung zu lenken. Amhalsbrecherischen Steilhang über einem Schlechtwetterbach blieben sie stehen und sahen zur nächsten Kuppe hinüber, wo einst das erste Haus der Bromonts errichtet worden war. Die Mauern und alles andere waren schon vor langer Zeit abgetragen worden, aber das rechteckige Felsfundament gab dem Durcheinander von Krüppeleichen und Ranken, die alles überwuchert hatten, noch immer eine Grundlage wohlgeformter Ordnung.
    Ree drehte sich um und wollte den Nordhang entlang in den Fichtenwald. Mom stolperte über eine Wurzel und landete auf den Knien, ihr Gesichtsausdruck war plötzlich hellwach. »Wie lange ist denn der Schnee schon hier?« fragte sie.
    »Seit vielen Tagen.«
    »Ich habe gesehen, wie er fiel.«
    Unter den Fichten war der Boden dank der vielen Nadeln frei von Gewächs, ein weicher brauner Teppich unter niedrigen Ästen, ein schöner Platz, an dem sich kleine, herumflitzende Kinder austoben konnten. Die Fichten konnten sich in Windeseile in eine Burg oder ein Segelschiff verwandeln oder einfach nur als idealer Picknickplatz dienen. Die Bäume hielten den Wind ab und gaben jeder Jahreszeit einen angenehmen Geruch.
    Mom hielt sich an einem Ast fest und machte wieder eine Pause. »Hier habe ich früher gespielt.«
    »Ich auch.«
    »Mit Bernadette.«
    Ree zog Mom eng an sich und ging mit ihr zwischen den Bäumen weiter, auf spitzen Nadeln, vorbei an her-umsausendenZweigen, dann hinunter und über den Schlechtwetterbach zum nächsten bewaldeten Hügel. Es gab Spuren im Schnee, Waschbären und Hasen und ein paar Kojoten, die in der Nähe herumgeschnüffelt hatten. Ree zog Mom den Hügel hinauf ins dichte Hartholzwäldchen. Viele Pausen waren nötig, langes Luftholen, bevor sie die Anhöhe erreichten. Die Bäume waren groß und erhaben und treu. Ein riesiger, flach abgesägter Eichenstumpf bot einen Sitzplatz mit Blick über das Tal. Der Stumpf war schon so verrottet, dass er wie ausgefranst aussah und weich war, aber man konnte gut darauf sitzen.
    Mom nahm Platz, Ree setzte sich neben sie. Für einen Augenblick hielt sie Moms Hand und kniete sich dann vor den Stumpf. Sie drückte mit beiden Händen und sah zu Mom hinauf.
    »Mom, ich brauche dich. Mom, schau mich an. Schau mich bitte an, Mom. Ich brauche deine Hilfe. Es passieren Dinge, bei denen ich nicht weiß, was ich tun soll. Mom? Schau mich an, Mom. Mom?«
    Die untergehende Sonne legte einen riesigen Streifen Rot hinter die Kammlinie. Ein Horizont aus rotem Licht, der von einzelnen Bäumen in Strahlen geteilt wurde und rosige Streifen auf den Schnee im Tal warf.
    Ree wartete ein paar Minuten, kniete da, während geweckte Hoffnungen zu bescheidenen Hoffnungen wurden, zu vagen Hoffnungen, kniete, bis alle Hoffnung zwischen ihren drückenden Händen zerrann. Sie ließ Moms Hand los, stand auf und ging in die Schatten hinter demStumpf. Sie kam eine Minute später wieder und betrachtete sie intensiv von oben und setzte sich wieder auf den Stumpf. Moms Haut war fahl, ihr

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