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Winters Knochen

Winters Knochen

Titel: Winters Knochen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: D Woodrell
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noch ein einziges Mal anrührt, dann sollte er zuerst mich erschießen.«
    Megan und Spider Milton nahmen Ree in die Mitteund hievten sie zur Scheune hinaus. Als Rees Füße durch den Staub schleiften, flatterten die Tauben auf. Die Anwesenden blieben stumm, während sie über den Kies zu dem grünen Pick-up gebracht wurde, nur der Redbone bellte wieder, und die Vögel sangen immer noch ihre Lieder.

REE HATTE EIN ECHO im Auge. Sie blickte aus dem schneller werdenden Pick-up, und alles, was sie wahrnahm – Häuser, Zäune, Pfosten, Ziegen, Kühe, Vögel oder einfach nur die Sonne –, hatte ein Echo neben sich stehen. Diese Echos wankten alle ein wenig, und wenn der reale Gegenstand sich bewegte, fiel das Echo zurück und verschwand für ein, zwei Sekunden aus dem Bild, bevor es wieder aufholte, sich danebenstellte und schimmernde Doppelbilder in Rees Auge hervorrief.
    Onkel Teardrop starrte in den Rückspiegel, bis der Pick-up eine Anhöhe überquerte. Auf der anderen Seite trat er auf die Bremse und setzte dann den Pick-up zurück, bis sie an einen versteckt liegenden Trampelpfad kamen. Er fuhr rückwärts über tiefe Furchen auf ein Brachfeld, vorbei an einer eingefallenen Scheune in ein Gestrüpp aus toten Apfelbäumen. In diesem Obstgarten fand er Dunkelheit am Tag, einen verborgenen Ort inmitten alter verrottender Bäume, mit Blick auf die Straße nach Hawkfall.
    Teardrop öffnete die Fahrertür, stieg aus und beugte sich vor, um besser unter den Sitz greifen zu können. Als er sich wieder hinters Lenkrad setzte, hielt er ein Fallschirmjägergewehr mit klappbarem Schaft und langem Magazin in der Hand, dazu eine abgesägte Schrotflinte mit kleinem weißen Knauf. Er legte die Schrotflinte nebenRee, klopfte ihr aufs Knie und sagte: »Falls sie kommen.« Dann beugte er sich vor, hob ihr Gesicht an und schaute in ihren Mund. Teardrop schwitzte und keuchte. »Diese Gail hat dir tatsächlich den Arsch gerettet.« Er nahm ihren Rockzipfel, drehte das unterste Ende zu einem Knoten zusammen und stopfte ihn ihr in den Mund. »Steck das dorthin, wo die Blutung ist, und beiß drauf. Nicht reden, nur gut draufbeißen, bis die Blutung nachlässt.«
    Ree konnte spüren, wie das Blut herzschlagweise aus den aufgeplatzten Stellen unter der Haut drang. Sie sah vier Augen und zwei Augen und einen ganzen Schwarm von blauen Tränen auf Onkel Teardrops Gesicht. Sie schob die Hand in Richtung Schrotflinte, spürte sie eher, als dass sie sie sah. Sie legte einen Finger an den kühlen Lauf, biss die Zähne zusammen und brach fast in Tränen aus, als sie ihren eigenen aufsteigenden Gestank wahrnahm.
    Teardrop streckte die Hand aus und schnappte sich aus dem Handschuhfach eine Babyflasche voller Meth. Er schraubte sie auf, stellte sie aufs Armaturenbrett, nahm zwei Mal eine Prise, hämmerte aufs Lenkrad und sagte: »Du musst jeden Tag bereit sein zu sterben. Dann hast du eine Chance.« Er saß im Schatten des toten Obstgartens und sah auf die Straße hinaus. »Du hast mich in der Hand. Verstehst du? Du hast mich jetzt echt in der Hand, Mädchen. Machst du was falsch, bin ich dran. Machst du richtig was falsch, muss ich richtig dafür bluten. Jessup hat einen Fehler begangen, der blöde Hund. Jessup ist zum Verräter geworden, und das ist leider der größte Fehler von allen. Hätt ich nie gedacht … aber er konnte nicht ertragen,dass sie ihn wieder geschnappt haben, er hatte Angst vor den zehn Jahren Knast. Und dann ist da noch deine Mom, die zu Hause hockt und für immer verrückt ist. Das lag ihm schwer auf der Seele. Die Jungs. Du. Er hat angefangen, mit diesem verfluchten Baskin zu reden … Aber ich will, dass du weißt, dass Jessup niemanden aus Rathlin Valley verpfiffen hat. Nein, das hätte er nie gemacht. Er sagte … Scheiße, er hat immer alles Mögliche gesagt … Wenn ich noch mal von vorn anfangen könnte, Mädchen, dann würde das allererste Arschloch, das ich umgelegt habe, noch immer herumspazieren. Aber … Scheiße, er ist nie gefunden worden, und ich … Du zwingst mich, die Karten auf den Tisch zu legen, Mädchen. Verstehst du das? Du bringst mich genau in die Lage, in die ich nie kommen wollte. Die warten doch nur drauf, dass ich was unternehme. Die beobachten mich. Hör mal … es ist so … Ich darf nicht wissen, wer Jessup umgebracht hat. Ich kann den einen oder anderen im Verdacht haben, ich kann ein komisches Gefühl haben, aber ich darf nicht wissen, wer meinen kleinen Bruder umgebracht hat. Selbst wenn er

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