Wintersturm
angerufen und mich daran erinnert, daß Mr.
Kragopoulos, der wegen des Huntschen Anwesens geschrieben hat, um zwei Uhr kommt und es sich ansehen möchte. Soll ich jemand anderes bitten, ihn dort hinaufzubringen?«
Ray blickte über Nancys Kopf hinweg, während er sie fest an sich drückte. »Das ist mir völlig gleich«, fauchte er. Dann fügte er schnell hinzu: »Entschuldigen Sie, Dorothy. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie ihm das Anwesen zeigen würden. Sie kennen den ›Ausguck‹ und können ihn verkaufen, wenn echtes Interesse vorliegt. Der arme alte Mr. Hunt braucht das Geld.«
»Ich habe Mr. Parrish nichts davon gesagt, daß wir heute vielleicht mit Leuten kommen könnten.«
»Der Mietvertrag mit ihm legt eindeutig fest, daß wir das Recht haben, bei nur halbstündiger telefonischer Voranmeldung und zu jeder beliebigen Zeit jemandem das Haus zu zeigen. Aus diesem Grund hat er es ja so billig bekommen.
Rufen Sie ihn vom Büro aus an und teilen Sie ihm mit, daß Sie kommen.«
»In Ordnung.« Dorothy wartete, unschlüssig, sie wollte noch nicht gehen. »Ray…«
Er blickte sie an, verstand ihren unausgesprochenen Wunsch, aber er schickte sie fort. »Sie können hier im Augenblick doch nichts tun, Dorothy. Kommen Sie zurück, wenn Sie beim
›Ausguck‹ fertig sind.«
Sie nickte und wandte sich zum Gehen. Sie wollte sie nicht allein lassen; sie wollte bei ihnen bleiben, mit ihnen die Angst teilen. Seit dem ersten Tag, an dem sie Rays Büro zum ersten Mal betreten hatte, war er für sie wie ein Rettungsanker gewesen. Nachdem sie fast fünfundzwanzig Jahre lang ihr ganzes Leben mit Kenneth gemeinsam geplant oder sich zumindest an seinen Absichten orientiert hatte, war sie plötzlich wie ohne Wurzeln gewesen, und zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie Angst gehabt. Aber die Zusammenarbeit mit Ray, die Möglichkeit, ihm beim Aufbau seines Geschäfts zu helfen und ihre Kenntnisse auf dem Gebiete der Innenarchitektur nutzen zu können, Leute für den Kauf von Häusern zu begeistern und sie dazu zu bewegen, noch etwas für die Renovierung anzulegen, hatten allmählich die Leere ihres Daseins erfüllt. Ray war ein so feiner und anständiger Mensch. Er hatte mit ihr eine sehr großzügige Regelung über ihre Gewinnbeteiligung getroffen. Selbst wenn er ihr eigener Sohn gewesen wäre, hätte sie keine höhere Meinung von ihm haben können. Als Nancy gekommen war, war sie stolz gewesen, daß Nancy ihr Vertrauen schenkte. Dennoch legte sich Nancy eine gewisse Zurückhaltung auf, die keine Vertraulichkeit zuließ. Und jetzt fühlte sie sich wie ein überflüssiger Zuschauer. Wortlos verließ sie das Zimmer, nahm ihren Mantel und Schal und ging zur Haustür.
Sie stemmte sich gegen den Wind und den Graupelschauer, als sie die Tür öffnete. Sie hatte ihren Wagen auf halbem Wege um die halbkreisförmige hintere Einfahrt geparkt. Sie war froh, daß sie nicht zur vorderen Ausfahrt mußte. Eine der Sendeanstalten hatte einen Fernsehwagen vor dem Haus geparkt.
Als sie auf ihren Wagen zueilte, sah sie am Rande des Grundstückes den Baum mit der Schaukel. Das war die Stelle, wo die Kinder gespielt hatten und wo Nancy den Handschuh gefunden hatte. Wie viele Male hatte sie hier selbst die Kinder geschaukelt? Michael und Missy… Die fürchterliche Möglichkeit, daß ihnen vielleicht etwas zugestoßen war – daß sie vielleicht tot waren – löste in ihr eine Beklemmung aus, so als ob sie ersticken müßte. Oh, bitte nicht das… allmächtiger und gnädiger Gott, bitte nicht das… Einmal hatte sie im Scherz gesagt, daß sie ihre Ersatzgroßmutter sei, doch da war in Nancys Gesicht ein so gequälter Ausdruck getreten, daß sich Dorothy am liebsten die Zunge abgebissen hätte. Es war schon sehr vermessen gewesen, so etwas zu sagen.
In Gedanken verloren starrte sie auf die Schaukel, ohne den feuchten Graupel zu beachten, der ihr ins Gesicht schlug.
Immer wenn Nancy im Büro vorbeigekommen war, waren die Kinder schnurstracks zu ihrem Schreibtisch gelaufen. Sie hatte sich immer bemüht, eine Überraschung für sie bereitzuhalten.
Noch gestern, als Nancy mit Missy hereingekommen war, hatte sie Spitzkuchen gehabt, die sie am Abend zuvor als besonderen Leckerbissen gebacken hatte. Nancy war unterwegs gewesen, um nach Vorhangstoffen zu suchen, und Dorothy hatte sich angeboten, auf Missy achtzugeben und Michael vom Kindergarten abzuholen. »Es ist doch schwer, Stoff auszusuchen, wenn man sich nicht richtig darauf
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