Wintersturm
konzentrieren kann«, hatte sie gesagt. »Und ich muß ohnehin beim Verwaltungsgericht noch ein paar Schriftsachen über die Untersuchung von Besitzansprüchen abholen. Und ich freue mich, wenn ich Gesellschaft habe, und auf dem Rückweg kaufen wir eine Portion Eis, wenn Sie einverstanden sind.« Das war erst vor vierundzwanzig Stunden…
»Dorothy.«
Erschrocken blickte sie auf. Jonathan mußte von seinem Haus aus quer durch den Wald gekommen sein. Sein Gesicht lag heute in tiefen Falten. Sie wußte, daß er fast sechzig Jahre alt sein mußte, und heute sah man ihm das wirklich an. »Ich habe gerade von dem Verschwinden der Eldredge-Kinder gehört«, sagte er. »Ich muß mit Ray sprechen. Vielleicht kann ich helfen.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen«, sagte Dorothy unsicher.
Die Besorgnis in seiner Stimme hatte etwas seltsam Tröstendes. »Sie sind im Hause.«
»Bis jetzt noch keine Spur von den Kindern?«
»Nein.«
»Ich habe den Artikel in der Zeitung gesehen.«
Zu spät merkte Dorothy, daß das Mitgefühl nicht ihr galt. In Jonathans Stimme lag eine gewisse Kühle, ein Vorwurf, der sie deutlich daran erinnerte, daß sie ihn angelogen hatte, sie hätte Nancy schon in Virginia gekannt. Müde öffnete sie die Wagentür. »Ich habe eine Verabredung«, sagte sie abrupt.
Ohne ihm Zeit zu einer Antwort zu lassen, stieg sie ein und ließ den Motor an. Erst als sich ihr. Blick verschleierte, bemerkte sie, daß ihr Tränen in den Augen standen.
13
Der Krach von den Hubschraubern gefiel ihm. Er erinnerte ihn an das letzte Mal, als die Leute meilenweit um die Universität herum ausgeschwärmt waren, um nach den Kindern zu suchen.
Er starrte aus dem Vorderfenster und blickte über die Bucht hinweg. An der Landungsbrücke war das graue Wasser von Eisschollen bedeckt. Schon vorher hatte das Radio Sturmwarnungen durchgegeben und Graupel oder Regen mit Schnee vermischt angekündigt. Diesmal wenigstens hatten die Meteorologen recht behalten. Der Wind peitschte die Bucht zu wütenden Schaumkronen hoch. Er beobachtete, wie ein Schwärm Möwen bei dem vergeblichen Versuch, gegen den Wind anzukommen, hin und her geweht wurde.
Sorgfältig studierte er das Innen- und Außen-Thermometer.
Draußen war es jetzt zwei Grad minus – seit dem Vormittag ein Absinken um fast sieben Grad. Bei diesem Wetter konnten die Hubschrauber und Suchflugzeuge nicht mehr lange oben bleiben. Und auch auf dem Boden würden nicht mehr viele auf der Suche sein.
Hochwasser war heute abend um sieben Uhr. Zu diesem Zeitpunkt würde er die Kinder nach oben bringen, durch die Dachstube auf den äußersten Balkon, den sie den Witwensteg nannten. Bei Flut bedeckte das Wasser unten den Strand, schlug wütend gegen die Stützmauern und rollte, von einem gewaltigen Sog hinweggezogen, ins Meer zurück. Das wäre der richtige Zeitpunkt, die Kinder hinunterfallen zu lassen…
hinüber… hinab… Wahrscheinlich würde es Wochen dauern, ehe sie angeschwemmt würden … Aber selbst für den Fall, daß man sie schon nach einigen Tagen fand, hatte er Vorsorge getroffen. Er hatte ihnen nur Milch und Kekse gegeben. Er würde doch nicht so dumm sein, ihnen etwas zu essen zu geben, was die Polizei auf den Gedanken bringen mußte, daß ihnen nach dem Frühstück mit Nancy noch jemand eine richtige Mahlzeit gegeben hatte. Natürlich hoffte er, daß man sie nicht mehr obduzieren konnte, wenn sie gefunden würden.
Er lachte in sich hinein. Bis dahin hatte er noch fünf Stunden Zeit: fünf lange Stunden, in denen er das Flutlicht betrachten konnte, das gerade in der Nähe von Nancys Haus und am See aufgerichtet wurde; fünf Stunden mit den Kindern allein. Wenn man es genau betrachtete, war sogar der Junge ein schönes Kind… eine so weiche Haut, und diese vollkommene Figur.
Aber ihn interessierte das kleine Mädchen. Es sah Nancy so sehr ähnlich… das seidige, schöne Haar und die kleinen wohlgeformten Öhrchen. Jäh wandte er sich vom Fenster ab.
Die Kinder lagen nebeneinander auf der Couch. Durch das Beruhigungsmittel, das er ihnen in die Milch gegeben hatte, waren beide eingeschlafen. Der Arm des Jungen lag schützend auf seiner Schwester. Aber der Junge rührte sich nicht einmal, als er das kleine Mädchen hochhob. Er wollte es nur aufs Bett legen und ausziehen. Es gab keinen Ton von sich, als er es vorsichtig ins Schlafzimmer trug und niederlegte. Er ging ins Badezimmer, drehte die Wasserhähne über der Wanne auf und prüfte das herausströmende Wasser,
Weitere Kostenlose Bücher